Niklas liebte die Nacht, die stille und auch die laute. Bis Corona kam. Jetzt fürchtet er sich schon am Abend davor.
Von Niklas Liebetrau
Eigentlich kann ich nachts am besten schreiben. Die Welt hält den Atem an und kommt zur Ruhe. Alles schläft, nichts passiert, zumindest nicht dort am Schreibtisch, wo ich sitze. Das beruhigt mich. Endlich ist die Zeit gekommen, in der sich alles nur auf dieser weißen Fläche auf dem Bildschirm abspielt, während der Cursor rhythmisch zwischen Buchstaben blinkt. Muss ich tagsüber schreiben, bin ich unruhig, abgelenkt, ich staubsauge oder koche übermotivierte Rezepte. Trost gibt mir der Gedanke an die Nacht, die kommen wird und mit ihr die Konzentration.
Doch in diesen Tagen finde ich darin keinen Trost mehr.
Neuerdings überkommt mich schon am Abend ein eigenartiges Gefühl. Immer dann, wenn der Tag an der Schwelle zur Nacht steht, wenn es noch leerer auf den Straßen wird, als ohnehin schon, wenn nicht mal mehr das Geschrei der Kinder zu hören ist, immer dann bin ich erfüllt von Melancholie. Ich will nicht, dass dieser Tag zu Ende geht. Bloß nicht. Um keinen Preis.
Ein Hund und sein Häusschen
Ich weiß nicht, woran das liegt. Vielleicht weil die Tage gerade so ironisch frühlingshaft sind, so schön und lang und sonnig, so voller Leben, dass man leicht vergessen kann, wie viel Freiheit wir aufgegeben haben. In diesen Corona-Nächten kann ich das nicht vergessen. Dann ist die Ruhe, die Stille kaum zu ertragen. Ich weiß, ich werde mich in diesen Stunden so sehr nach Leben sehnen, dass es mir schon am Abend vor der Nacht graut. Denn tatsächlich sind wir nur so frei, wie ein Hund, der an sein Häuschen gekettet ist.
Diese Melancholie spürte ich bisher eigentlich nur, wenn ich nach einer durchfeierten Nacht aus einem dunklen Club ins Sonnenlicht trat. Zurückkehrte in den Alltag, aus dem ich vor ein paar Stunden erst ausgebrochen war. Um mich herum gehetzte Menschen auf dem Weg zur Arbeit. Die Nacht war Urlaub vom Leben, von Struktur, von Normalität. Sie bedeutete Freiheit, egal ob inmitten der Bässe oder vor einem weißen Blatt Papier.
Was ich alles nicht tun kann …
Corona hat das Gefüge von Nacht und Tag durcheinandergebracht. Der Tag ist nun die Freiheit, in der alles explodiert, in der man noch einen letzten Rest von Leben kosten kann. In der Nacht ist Isolation. Dann merke ich, was ich alles nicht tun kann. Nicht ins Restaurant, nicht in die Bar, ins Kino, ins Theater, in den Club, ins Vergessen. Die Nacht ist nur ein Spiegel unserer beschissenen Situation.
In dem französischen Film „Drei Uhr Nachts“, 1955 von Jean-Pierre Melville gedreht, ist zu Beginn Paris im Morgengrauen zu sehen. Leere Plätze, geschlossene Geschäfte, einsame Gestalten. Dazu eine Stimme aus dem Off: „Montmartre in den wenigen Stunden, die die Nacht vom Morgen trennen. Hier und da noch ein paar Lichter, ein paar Takte Musik. Menschen, die zur Arbeit gehen und Menschen, die nichts zu tun haben … Fassaden, hinter denen es still geworden ist, und Fassaden, hinter denen die Nacht kein Ende findet.“
Heute sieht es immer so aus.
Wie sehr sehne ich mich nach dieser anderen Zeit, in der an manchen Orten die Nacht einfach kein Ende finden wollte. Eigentlich liegt sie nur ein paar Wochen zurück. Mir kommt es wie eine Ewigkeit vor.
Beitragsbild: Don Harder (CC BY-NC 2.0)
Ein Gedanke zu „Nachts ist die Isolation am schlimmsten“