Kritische Beobachter Teil 1: Thorsten Kingreen
Eine überwältigende Mehrheit der Bevölkerung befürwortet die Maßnahmen gegen die Ausbreitung des Corona-Virus. Kritische Stimmen sind dagegen selten. In dieser Reihe kommen sie zu Wort.
Von Niklas Liebetrau
Thorsten Kingreen ist Professor für Öffentliches Recht, Sozialrecht und Gesundheitsrecht an der Universität Regensburg. Auf der Seite verfassungsblog.de veröffentlichte er einen vielbeachteten Beitrag, in dem er den öffentlichen Diskurs in der Corona-Krise hinterfragt. Wir erreichen Thorsten Kingreen telefonisch zu Hause. Gerade ist er dabei, Examensklausuren zu korrigieren.
Herr Kingreen, was macht Ihnen mehr Angst, Corona oder die Maßnahmen gegen Corona?
Beides gleichermaßen. In der öffentlichen Wahrnehmung scheinen aber die gesellschaftlichen Auswirkungen der Gegenmaßnahmen sehr viele Menschen noch nicht zu besorgen. Anders kann ich mir nicht erklären, wie wenig Aufmerksamkeit die offensichtlich verfassungswidrige Reform des Infektionsschutzgesetzes am 25. März ausgelöst hat.
Wie kommen Sie darauf?
Das Gesundheitsministerium kann jetzt im Notstandsfall durch Rechtsverordnungen Parlamentsgesetze umgehen. Ein solches Notverordnungsrecht gab es seit Hindenburg nicht mehr. Der konnte Anfang der 1930er Jahren an einem handlungsunfähigen Reichstag vorbeiregieren. Diese Situation haben wir heute aber nicht. Der Bundestag ist handlungsfähig, er hat sich nur auf ungeheuerliche Art und Weise ein Stück weit selbst entmachtet. Das halte ich für hochproblematisch. Wenn der Bundestag sich und der Demokratie etwas Gutes tun will, sollte er diese Norm schleunigst wieder aufheben.
Kritisch ist die rechtliche Dimension
Missbraucht Jens Spahn sein Amt als Gesundheitsminister?
Nein, ich finde er macht seine Sache bislang sehr gut. Mir geht es auch nicht um Kritik an konkreten Personen, sondern allein um die verfassungsrechtliche Dimension und den öffentlichen Diskurs.
Was ist denn dann so problematisch?
Problematisch ist, dass ein Ministerium durch Verordnung Gesetze aushebeln kann, ohne dass der Bundestag dagegen etwas tun könnte. Der Gesundheitsminister kann vom Infektionsschutzgesetz abweichen, oder das Arzneimittelgesetz verkürzen, um beispielsweise einen Impfstoff frühzeitig zuzulassen. Er kann von anderen Bundesgesetzen abweichen, die auch die Grundrechte der Bürger schützen sollen. Durch Rechtsverordnung können Betriebe geschlossen werden, kann in die Preisbildung eingegriffen und können medizinische Produkte beschlagnahmt, sowie medizinische Einrichtungen zur Überlassung von Personal verpflichtet werden.
Was schnell wieder öffnen muss – und was nicht
Klingt doch eigentlich alles vernünftig . . .
An sich schon, aber über so massive Eingriffe in die Grundrechte müsste eigentlich der Gesetzgeber jeweils einzeln entscheiden.
Mit diesen Beschränkungen des öffentlichen Lebens kann es ja auch nicht ewig so weitergehen.
Das ist vollkommen richtig. Es wird jetzt immer wichtiger, über Differenzierungen nachzudenken. Wer ist besonders darauf angewiesen, dass das öffentliche Leben wieder losgeht? Im Bildungswesen: Abiturienten mehr als Achtklässler, oder Studierende vor Prüfungen mehr als Zweitsemester. Auch alle sozialen Einrichtungen müssen schnell wieder öffnen: Frauenhäuser, Tafeln – die sind für manche existenziell. Bundesliga-Stadien, so schwer mir selbst das fällt, dagegen nicht so sehr.
Es wird jetzt öfter über Exit-Strategien nachgedacht. Worauf kommt es ihrer Meinung nach dabei an?
Es muss die Frage gestellt werden: Ist es richtig, dass wir jungen Leuten Restriktionen auferlegen, die vor allem einer anderen Bevölkerungsgruppe dienen? Das müssen wir diskutieren, sonst wird die Verhältnismäßigkeit der Maßnahmen bald nicht mehr gegeben sein. Ich möchte betonen: Ich will nicht das Virus verharmlosen. Aber wir müssen dringend über die gesellschaftlichen Kollateralschäden reden, die die Maßnahmen mit sich bringen. Die Diskursverbote, die hier von der Bundesregierung und von vielen Ministerpräsidenten kommen, halte ich für absolut verfehlt. Auch Politik, die jetzt zum Stillstand kommt, hat doch so dringende Aufgaben, denken Sie nur an den Klimawandel, der weitaus gefährlicher ist als ein Virus, dem die Luft ausgeht oder für das die Wissenschaft einen Impfstoff finden wird. Wir erleben da eine völlige Verzerrung von Gefahrwahrnehmung. Das ist fatal.
„So könnte man etwa eine Diktatur wieder aufbauen“
Was wird die Corona-Krise für den zunehmenden Populismus und Nationalismus bedeuten?
Diese Frage stelle ich mir auch oft. Einerseits haben wir gesehen, wie schnell man die Menschen in einen Angsttunnel bekommt, in dem sie plötzlich in Beschränkungen von Freiheiten einwilligen, die ihnen eigentlich heilig waren. Plötzlich erleben wir auch wieder Denunziantentum im Privaten und wie gesagt Notverordnungen im Öffentlichen. Da denke ich mir schon manchmal, so könnte man etwa eine Diktatur wieder aufbauen. Andererseits kann einen das Ganze auch optimistisch stimmen. Ich musste in den letzten Tagen oft an Alexander von Humboldt denken, der einmal sagte, Angst habe er vor Weltanschauungen von den Menschen, die die Welt nie angeschaut haben. Wir sehen an Trump und Bolsonaro doch, wohin primitive Selbstbespiegelung und groteske Wissenschaftsfeindlichkeit führen. Für Nationalisten ist so ein Virus, das nicht an Grenzen haltmacht, ein Desaster. Wir werden es nur mit grenzüberschreitender Zusammenarbeit und Solidarität in den Griff bekommen.
Beitragsfoto: Denis Simonet/CC BY 2.0
3 Gedanken zu „„Eine völlige Verzerrung von Gefahrwahrnehmung““