Nicht alle Menschen haben die gleichen Möglichkeiten, die Corona-Krise zu bewältigen. Gesellschaftliche Unterschiede verschärfen sich in der aktuellen Situation, die nur solidarisch gelöst werden kann. Das Gegenteil von sozialer Distanz ist jetzt nötig.
Von Torben Becker
Der Sound der Corona-Krise wird bestimmt von einem polternden Ordnungsruf. Auf Twitter trenden Hashtags wie #staythefuckhome. In der Wochenzeitung Die Zeit wird von einer Notwendigkeit sozialer Distanz gesprochen. Überall wird das Fehlverhalten der anderen angeklagt. Der Mitmensch als Gefahr.
Das Virus macht keinen Unterschied zwischen Klasse, Herkunft und Geschlecht. Das tut nur der Mensch. Die Frage, wie der Einzelne eine Infektion übersteht, wird damit zum Spiegel der Gesellschaft. Finanzielle Rücklagen, räumliche Ausweichmöglichkeiten, soziale wie emotionale Sicherheitsnetze entscheiden mit über den Verlauf der Krankheit und weiteren Infektionen.
Kann ich mit dem Auto zum Einkaufen fahren oder bin ich auf öffentliche Verkehrsmittel angewiesen? Habe ich ein eigenes Zimmer oder teile ich eine Zwei-Zimmer-Wohnung mit meinen Eltern und Geschwistern? Hält die Familie den psychischen Stress auf engstem Raum aus oder braucht sie die Flucht ins Freie, um nicht komplett am Rad zu drehen? Wieso beschränkt sich unsere Solidarität auf unser engstes Umfeld, wenn gleichzeitig Bilder, wie die aus dem Geflüchtetenlager Moria auf Lesbos, ausgeblendet werden? Welche Grenze hat Solidarität?
Der Ordnungsruf duldet keine Widerrede
Ein Beispiel: Die Enge der kleinen Wohnung wird unerträglich. Meistens werden Raviolis aus der Dose aufgetischt. Tomatengeschmack. Die kleinen Geschwister toben. Gestern ist dem Vater im Streit mit der Mutter die Hand ausgerutscht. Diese Beklemmung. Wenn du dich dann ins Freie flüchtest, wird dir von der anderen Straßenseite „Bleib‘ verdammt nochmal zu Hause!“ entgegengeschrien.
Dieser Ordnungsruf zur Isolation duldet keine Widerrede. Darin liegt die autoritäre Gefahr der Krise, die auch eine politische ist. Der Ordnungsruf ist eine Forderung nach angepassten Verhalten. Er setzt voraus, dass alle Menschen ähnliche finanzielle Möglichkeiten haben, um die Krise bewältigen zu können. Was aber passiert beispielsweise mit Wohnungslosen? 2018 noch waren rund 678.000 in Deutschland registriert. Die Dunkelziffer wird höher liegen. Spätestens seit dem Kontaktverbot ist das Gros der Hilfsangebote für diese Menschen geschlossen.
PEN fordert Begriff wie „physischer Abstand“
Je mehr von sozialer Distanz gesprochen wird, desto härter verhält sich die Gesellschaft gegenüber denjenigen, die sich nicht so leicht vor dem Virus schützen können. So banal es sich anhört, doch die Unterstützung für die Mitmenschen beginnt in der Abrüstung der Sprache.
Die Schriftstellervereinigung PEN hat in kürzlich dazu aufgerufen, Begriffe wie „Soziale Distanz“ zu vermeiden und stattdessen von „physischen Abstand“ zu sprechen. In der aktuellen Situation bedürfe es nicht der Isolation, sondern des Zusammenhalts und der Verantwortung füreinander. Eine solidarische Gesellschaft definiert sich nicht durch eingehaltene Kontaktverbote, sondern dadurch, dass die Schwachen, Armen und Gebeutelten nicht sich selbst überlassen werden. Auch nicht in den eigenen vier Wänden, sofern vorhanden.
Luftbrücke Lesbos-Berlin
Wie geht soziale Nähe? Obdachlose könnten in leerstehenden Hotels untergebracht werden, das forderte die Sozialgenossenschaft Karuna aus Berlin. Der Verein Mission Lifeline hat Mittel für eine private Luftbrücke zwischen Lesbos und Berlin gesammelt, um Menschen aus dem überfüllten Geflüchtetenlager Moria zu evakuieren. Zwei Flüge seien nach Angaben des Tagesspiegel schon finanziert. Und in zahlreichen Städten gibt es Initiativen zur Unterstützung von Risikogruppen, um für Einkäufe, Medikamentenbesorgungen und Abwechslung während der Einsamkeit in Isolation zu sorgen.
Foto: ISOtob/Flickr/CC BY-NC 2.0