Bunte Masken, wenig Abstand

Wie gehen die Menschen in Berlin mit dem Lockdown um? Das wollte Niklas Liebetrau herausfinden und fuhr dafür einen halben Tag mit der Ringbahn. Sein Fazit fällt zwiespältig aus. Von Niklas Liebetrau

Warten auf den Zug am Bahnhof Berlin Westkreuz. Es herrscht ein bisschen Weltuntergangsstimmung, trotz schönstem Frühlingswetters. „Sehr geehrte Fahrgäste, gemeinsam gegen Corona. Mund und Nase bedecken. Pflicht ab Montag“, hallt eine weibliche Computerstimme über den leeren Bahnsteig. Kein Bitte, kein Danke. Auch die Deutsche Bahn muss genervt sein wegen Corona. Klingt zumindest danach. So nach stiller Wut. Jetzt fährt die Ringbahn S 42 vor, es ist Donnerstagmorgen, 10:25 Uhr, ich steige ein und das Experiment geht los.

Mit der Ringbahn fahren, immer im Kreis und dabei gucken, wie die Berlinerinnen und Berliner nach fünf Wochen Lockdown so drauf sind. Worüber unterhalten sie sich? Tragen viele eine Maske? Und wie soll ein Abstand von 1,5 Metern in der Bahn überhaupt eingehalten werden?

Das will ich herausfinden, und dafür sitze ich jetzt hier, in einem Vierersitz, und obwohl ich gebürtiger Berliner bin und damit das Ringbahnfahren durchaus gewohnt, verspüre ich auch eine leise Aufgeregtheit. Die Türen schließen, der Zug fährt an.

Im Westen ist es in der Ringbahn ruhig

Erster Eindruck: Nicht viel los.

Nur neun andere Leute sitzen im Abteil. Alle in weitem Abstand voneinander. Gleich gegenüber eine besonders eindrucksvolle Atemschutzmaske. 3M2138 steht in roten Lettern auf dem grauen Gerät, das vermutlich auch bei einem Giftgasanschlag gut einsetzbar wäre. Der Mann der sich damit schützt, schwarze Lederjacke, graues Haar zum Zopf gebunden, guckt gedankenverloren aus dem Fenster. Von Furcht keine Spur. Mit so einem Ding hätte ich die auch nicht.

Überhaupt gucken alle ziemlich teilnahmslos. Entweder aus dem Fenster, oder aufs Smartphone. Wie der junge Mann gleich rechts, in seinem rosa-hellblau-hellgrünen Kapuzenpulli und Tunnelring im Ohrläppchen. Keine Maske, dafür einen schwarzen Mops an der Leine. Das arme Tier röchelt leise. Nächste Station „Halensee“, die Türen gehen automatisch auf, niemand steigt aus, kaum einer ein.

Auch bei den anderen Stationen im Westen steigt so gut wie niemand ein. Vermutlich liegt das daran, dass in Charlottenburg-Wilmersdorf und Tempelhof-Schöneberg viel mehr alte und damit gefährdete Menschen leben. Und die sind sie im Schnitt auch deutlich wohlhabender als in anderen Bezirken und damit auf einen solchen Virenherd wie die S-Bahn vielleicht nicht so angewiesen. Da kommt man auch mit dem silbernen Benz ganz gut voran. Anders ist das natürlich in Neukölln, Pankow und Friedrichshain und da passieren auch die richtig spannenden Dinge, aber dazu später.

Wohnungslose haben es schwer

Jetzt steigt erstmal René ein. Klassischer Obdachloser-in-der-Bahn-Auftritt, nur zusätzlich noch mit Maske und Plastikhandschuhen, die irgendwann mal weiß gewesen sein müssen.

„Entschuldigen Sie die Störung, ich verkaufe den Karuna-Kompass“, sagt er und läuft, das linke Bein nachziehend, durch den Wagen. „Über eine kleine Spende würde ich mich sehr freuen, für uns ist es in diesen Tagen besonders schwer.“

Das glaube ich ihm aufs Wort, greife in meinen Rucksack, ziehe eine Flasche Wasser und einen Müsliriegel hervor. „Kannste damit was anfangen?“

René nickt und murmelt ein Danke.

Wohnungs- und Obdachlose, ohnehin schon weit außerhalb der allgemeinen Wahrnehmung, sind wahrscheinlich diejenigen, die am meisten vergessen werden in der Krise. Viele von ihnen gehören zur Risikogruppe. Sie haben Mangelerscheinungen und Vorerkrankungen, können sich nicht isolieren und nicht so oft waschen. Außerdem geht ihnen gerade der Hauptteil ihres Einkommens flöten, weil weniger Leute auf den Straßen sind, die etwas spenden, eine Zeitung kaufen oder Pfandflaschen stehen lassen.

Typisch Berlin

Nach René kommen noch Lars und Sascha, recht schnell hintereinander, und fast dachte ich schon, das ginge jetzt den ganzen Tag so weiter. Doch am Ende, nach sieben Stunden und sechs Runden Ringbahn, waren es nur diese drei Obdachlosen, alle in der ersten Runde am Morgen.

Unterdessen ist die Bahn an den Weiten des Tempelhofer Felds entlanggerauscht und erreicht zum ersten Mal Neukölln. Der Wagon ist jetzt gut gefüllt. Abstand halten ist schwieriger geworden. Vorwurfsvoll schaut der schwarze Mops mich an und rasselt.

Ich beschließe den Ort zu wechseln, springe an der Sonnenallee raus, kurzer Sprint zum nächsten Wagon, wieder rein und sitze jetzt einer Frau in brauner Jacke von der Pizzabäckerei Ditsch gegenüber. Sie telefoniert: „Cheffe war heute janich da“, sagt sie und fährt sich mit langen roten Fingernägeln durch die grauen Stellen ihres Haaransatzes. „Ick wollt nur sagen, ick komm jetzt nach Hause und mach watt zu essen.“ –  „Irjendeinen Eintopf wa? Ham wa noch Linsen? Dit kann ick nachher allet jut mit zu Muttern nehmen.“ Ach Berlin, ick liebe dir.

Die Sorgen sind oft ganz andere

Irgendwo im hinteren Teil des Wagens – wir sind jetzt Greifswalder Straße in Prenzlauer Berg – wummert laut Musik. Französischer Rap mit sehr viel Autotune. Das muss ich mir natürlich genauer ansehen, gehe rüber und setze mich unauffällig neben die zwei Jungs mit der kleinen roten Musik-Box. Sie können nicht älter als Mitte Zwanzig sein, sehen aber so aus, als kämen sie direkt aus einem 90er Jahre Underground Rave in West-Berlin. Beide mit kurzen Hosen, dreckigen Sneakern und Sportsonnenbrillen.

Der eine, raspelkurze blonde Haare an der Seite und oben etwas länger, am Telefonieren: „Thorsten, lass uns ma wann anders quatschen, ick bin völlig im Sack.“

Sein Kumpel, wilder dunkler Bart, zahlreiche Ketten um den Hals, sitzt, liegt, hängt auf halb acht, Füße quer über die Sitze und lächelt breit. Schaut ganz schön druff aus. Druff und leer.

Der Blonde wieder: „Ick hab jetzt drei neue Anzeigen: Zweimal Erschleichung von Leistung und Betrug …  – Thorsten?“ Offenbar ist das Netz kurz weg. Jetzt wieder: „Thooorsten – ja, also haste jehört, was ick für Anzeigen hab? – Mit meinem Drogenproblem und deinem Wissen würde ick locker auf die Therapeutische kommen, und dann könn wa schön zusammen chilln im Knast!“ Lautes Gelächter. Dann stehen die beiden plötzlich auf – Schönhauser Allee – und sind weg.

In der Ringbahn spricht keiner über Corona

11:15 Uhr. Innerhalb von Minuten, habe ich eigentlich alles gesehen, was Berlin ausmacht. Existenzielle Nöte, ruppige Warmherzigkeit. Menschen kommen von der Arbeit, andere versacken im MDMA-Nirwana. Ziemlich genau eine Stunde dauert eine Runde Ringbahn und die erste neigt sich jetzt dem Ende zu. Zurück in den Westen, die Bahn wird leerer.

Niemand hat bisher über Corona geredet. Das fällt mir erst auf, als ein Mann mit dunklem Teint, vollem Bart und orangener DB-Weste einsteigt und mit Tuch und Desinfektionsspray alle Oberflächen abwischt. Eine Sisyphusarbeit. Wem nützt es, wenn einmal gewischt wird in einem Zug, der pro Tag eine halbe Million Fahrgäste transportiert? Wirkt eher wie ein Alibi. Und ob es jetzt wegen Corona weniger Fahrgäste sind? Mir, dem Reporter, scheint es nicht so, aber um sicher zu gehen, ein kurzer Anruf bei der Pressesprecherin der Deutschen Bahn. Antwort: „Wir erheben keine Daten dazu, kann ich Ihnen nicht sagen.“ Aha.

Etwas ist anders …

Trotzdem gibt es ein unverkennbares Detail, dass in diesen Tagen nicht alles wie immer ist. Wir befinden uns mittlerweile auf der zweiten – oder ist es schon die dritte? – Runde Ringbahn. Insbrucker Platz. Zwei Männer, Hand in Hand, steigen ein. Sie sehen absolut gleich aus. Beide die gleiche Jeans, das gleiche dunkelblaue T-Shirt, beide Adidas-Turnbeutel auf dem Rücken und beide eine Maske aus grauem Filz mit rotem Aufsatz und weißen Gummibändern im Gesicht. Natürlich: Berlin wäre nicht Berlin, wenn es keine modische Antwort auf die Maskenpflicht parat hätte.

In der Ringbahn zeigt sich die modische Antwort auf die Maskenpflicht. Foto: Privat

Jetzt, wo es wieder in die hippe Richtung geht, steigen tatsächlich ganz tolle Vertreter des neuen Accessoires ein: da ist die Emo-Variante, all black und sportlich eng ums Gesicht gezogen; die neongelbe Baumarktvariante; das selbstgenähte Exemplar mit bunten Babuschka-Figuren oder rot-blauen Streifen. Man hat ja schon davon gehört, dass auch Edelbekleidungsfirmen wie Saint Laurent und Luis Vuitton mittlerweile Masken herstellen. Es wird nicht lange dauern, da wird aus der Pflicht eine modische Entfaltung.

Neue Gesprächsthemen in der Ringbahn

Allem die Krone setzt aber eine ältere blonde Dame auf. Sie trägt ein graues Jackett, rote Lederhandschuhe, auf denen Perlen befestigt sind, dazu passend eine rote Atemmaske. Zusätzlich vor dem Gesicht eine durchsichtige Plastikplatte, wie sie auf Intensivstationen oder in Altenpflegeheimen gerade getragen werden. „Die sieht aber komisch aus“, flüstert ein kleines Mädchen ihrer Mutter ins Ohr. „Pscht“, macht die Mutter.

Die Dame zieht ihre Handschuhe aus.

„Wie machen sie das denn mit der Brille? Bei mir beschlägt die dauernd“, fragt eine ebenfalls ältere Dame rechts neben ihr.

„Nein, wenn Sie die Maske unter die Brille schieben, dann nicht. Ja, genau so“, antwortet die andere.

Fachmännisches Gespräch zwischen Maskenträgerinnen. Hat man vorher so auch noch nicht gehört. Dann schauen beide wieder aus ihrem Fenster.

Alles wie immer?

Ach, is dit Wetter jut. Im hinteren Teil zwinkert mir schon seit längerem eine Transe zu, schräg gegenüber stecken sich zwei Frauen verliebt Erdbeeren in den Mund. Die Leute haben Frühling im Gesicht, die Kleider der Frauen flattern im Fahrtwind, die Sonnenbrillen sehen geil aus. Abgesehen von den Masken, die nach kurzer Zeit gar nicht mehr auffallen, ist Berlin eigentlich wie immer.

In der Ringbahn ist im Westen wenig los. Foto: Privat

Nach sechs Runden, die am Ende völlig ineinander verschwimmen, eine erste Bilanz: Im Westen ist es mitunter leer, in anderen Bezirken immer wieder richtig voll. Dann sind alle Sitze belegt und die Leute stehen dicht an dicht in den Gängen. Vermutlich lässt sich in den Buchhandlungen und Schuhgeschäften, die jetzt wieder offen sind, ein Abstand gewährleisten, ja. Aber die, die dort einkaufen, werden größtenteils mit Bus und Bahn an- und auch wieder abreisen. Und da hat sich’s dann mit dem Abstandhalten.

In der letzten Stunde vergesse ich meine Aufgabe, schaue selbst gedankenverloren aus dem Fenster, werde Teil des S-Bahn-Interieurs. Schrebergartenkolonien mit Hertha-Fahnen, Mietskasernen an der Autobahn, Graffitis und immer wieder die Spree ziehen vorbei. Dann ist es 17:15 Uhr. Bahnhof Westkreuz. Ich habe den Zug verlassen, stehe wieder auf dem Bahnsteig, der jetzt nicht mehr ganz so leer ist, und schaue meiner S 42 hinterher, wie sie eine weitere Runde durch Berlin antritt. Die Menschen lassen sich vom Virus nicht das Leben wegnehmen, das hat man gesehen. Sie machen eigentlich so weiter wie immer. Schwer zu sagen, ob einen das freuen oder eher besorgen soll.

Beitragsbild: Marco Verch (CC BY 2.0)

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