Unsere Autorin verbrachte einen Abend mit 90 anderen Menschen, einem Känguru und einem Schriftsteller auf dem Parkdeck des Esslinger Neckar Centers. Der Ausflug zeigte ihr, dass auch in Corona-Zeiten Gemeinschaft möglich ist.
Von Isabelle Zeiher
Spiegel richten, Sitz einstellen Zündschlüssel drehen, Handbremse lösen, Vorwärtsgang einlegen und mit meinem blauen Polo Richtung Esslingen fahren. Nachdem sich meine Abende und Tage in den vergangenen Wochen wegen der Corona-Ausgangssperre zu Hause am Schreibtisch, auf dem Sofa, im Bett und auf dem Balkon abgespielt hatten, freute ich mich auf etwas Abwechslung. Ein paar Tage zuvor war ich im Netz auf folgenden Post gestoßen:
Aus Montag wurde Mittwoch, aber das hat die Vorfreude nur gesteigert. Während ich mich Esslingen nähere, sehe ich mich schon vor der Leinwand parken.Wie in einem amerikanischen Blockbuster der 60er Jahre: Die letzte Abendsonne schimmert auf die Dächer der Oldtimer. Bald macht das schwindende Licht tausenden leuchtenden Sternen am Himmel Platz. Ich gleite auf die Schulter meines Partners, wir schauen uns tief in die Augen und fangen dann an, wild zu knutschen, bis der Filmvorführer Casablanca einlegt, ich meinen Petticoat glattstreiche, während das Radio ganz leise und gleichmäßig rauscht und Humphrey Bogarts Stimme das Auto erfüllt. Romantisch.
Autokino ohne Fummelei
Nur dass ich in keinem Oldtimer sitze, Jeans statt Sommerkleid trage, mein Knutschpartner in unserer Wohnung Elektrotechnik lernt und später nicht Humphrey Bogarts, sondern Marc-Uwe Klings Stimme das Auto erfüllen wird. Es wird gezeigt: die Känguru-Chroniken.
Ausfahrt B10 Mettingen/Esslingen. Langsam rolle ich das Parkdeck des Neckar Centers hoch. Bevor der Beamer an und die Lichter in den Autos ausgehen, treffe ich mich mit Sibylle Tejkl. Zusammen mit einem Kollegen ist sie Geschäftsführerin des kommunalen Kinos Esslingen – ein Verein, der rund 1300 Mitglieder zählt und vor 39 Jahren gegründet wurde. Tejkl – seit 1991 Mitarbeiterin des Kinos, eine 60 Jahre alte Frau mit Mundschutz und Desinfektionsmittel in der Jackentasche, kümmert sich mit fünf freiwilligen Helfern, zwei Mini-Jobbern und zwei weiteren Festangestellten um die letzten Vorbereitungen. Parkplätze abkleben. Technik prüfen. Funkgeräte an die ehrenamtlichen Helfer verteilen. Felix Biber, der Techniker, sitzt vor einem Rechner und legt den Ablaufplan für den heutigen Abend fest.
„Welchen Kurzfilm sollen wir nehmen, Sibylle?“
„Nimm Pianoid.“ Ein Kurzfilm der Filmakademie Baden-Württemberg aus dem Jahr 2015.
Durch Corona-Krise 30.000 Besucher weniger
Es ist die erste Autokino-Vorstellung des kommunalen Kinos, ein neues Terrain für die Gruppe also. Durch Corona musste das Kino am 16. März per Beschluss schließen. Aber auch schon im Vorfeld wurden viele Veranstaltungen abgesagt – darunter die Traditionsveranstaltung „Kino auf der Burg“, eine der wichtigsten Veranstaltungen, um das Überleben des Kinos zu sichern. 55.000 Besucher verzeichnete das kommunale Kino im vergangenen Jahr. 2020 werden es mindestens 30.000 weniger sein. Damit es nicht noch weniger werden, suchte das Team nach einer Alternative. Auf Stefan Harts Sofa, dem zweiten Geschäftsführer, entstand schließlich die Idee – er las in der Zeitung vom Autokino in Kornwestheim. Durch Corona hat es so viele Zuschauer wie schon lange nicht mehr. Warum nicht dasselbe in Esslingen machen?
Vor dem Rechner auf Google Earth flogen Tejkl und Hart immer wieder über Esslingen auf der Suche nach einer großen Freifläche für Leinwand und Autos. Daimler-Parkplatz? Zu viele Bäume, die würden stören. Andere Parkplätze in Esslingen? Zu schmal, zu wenig Platz, falsche Form. Mit dem Parkdeck des Neckar Centers war schließlich der geeignete Platz gefunden. Die Autokino-Lösung überbrückt aber nur die Corona-Krise. Sobald der normale Kinobesuch wieder möglich ist, zieht der Verein wieder in das denkmalgeschützte Industrieareal am Stadtpark Maille in Esslingen.
Durch das Autokino endlich etwas Abwechslung
Sibylle Tejkl läuft mit einer ehrenamtlichen Helferin vom Parkdeck zu den Schranken hinunter. Kurz vor 20 Uhr. Bald werden die Besucher in ihren Smarts, BMWs, Fords und Fiats anrollen. Schnell kleben die beiden Frauen einen Flyer vor die Einfahrt: Autokino, rechte Spur, Obergeschoss. Dann ziehen sie sich den Mundschutz über Lippen und Nase.
20.15 Uhr. Ein schwarzer Wagen rollt an die Schranken. Michael Roth mit seiner Frau Anja. Auf dem Rücksitz Tochter Deborah. Die letzten Wochen haben sie die Abende zuhause verbracht – mehr Möglichkeiten gebe es zurzeit ja nicht. Da beide in Vollzeit im Homeoffice arbeiten und nebenher noch ihre vierjährige Tochter betreuen, sei es eine echte Erleichterung, mal rauszukommen. Etwas anderes als die eigenen vier Wände zu sehen. Der Vater schaut nach hinten: „Deborah wird die Vorführung vermutlich nicht mehr im wachen Zustand erleben. Sie ist ganz schön müde.“ Von der Rückbank kommt Protest: „Gar nicht wahr.“
Scheiben trennen unseren Alltag
Die Fensterscheibe, durch die der Vater spricht, ist nur einen Spalt breit offen. Gerade so weit, dass ich seine und die leisen Stimmen seiner Frau und Tochter höre. Die Scheibe, die uns trennt. Im Supermarkt, in der Apotheke, im Kiosk – und auch hier, im Autokino.
Michael Roth hält das Handy mit dem Kinoticket von innen an die Fensterscheibe. „Bitte nicht in die Laserstrahlen schauen.“ Tejkl scannt den Barcode. Gibt der Familie ein Ticket für die Ausfahrt später. Die Schranke geht auf. Ein Auto nach dem anderen rollt durch die Schranke. 40 Wagen und 90 Besucher erwartet Sibylle Tejkl. „Bitte das Fenster geschlossen lassen. Bitte den Handy-Bildschirm heller einstellen.“ Ausfahrtticket. „Viel Spaß.“
Das Parkdeck füllt sich. Mein Auto ist inzwischen von anderen Wagen umzingelt. Junge Pärchen. Familien. Freundinnen. Pro Wagen maximal zwei Leute, die nicht im selben Haushalt wohnen. Ein paar Autos neben meinem steht Karin Domins roter Kleinwagen. Neben ihr sitzt ihre Freundin Petra Kaiser. „Die letzten Abende habe ich mit meinem Sohn über Skype gekocht, gelesen und viel ferngeschaut“, sagt Domin. Das Autokino sei ein positiver Nebeneffekt der Corona-Krise. Mal was Neues ausprobieren. Mal etwas anderes tun als zuhause sitzen.
Geht die Sonne unter, trifft Filmromantik auf Realität
Die Sonne geht unter, und die Weinberge, die eben noch im Abendlicht gebadet haben, verblassen am Horizont. Der Wald um den Parkplatz wird immer dunkler. Bis ich nur noch seine Konturen sehe. Die einzigen verbleibenden Lichter sind die Sterne am Himmel und die Signallleuchten der Kräne auf der Baustelle nebenan. Filmromantik trifft Realität.
Inzwischen wirft der Projektor Bilder auf die Leinwand. „Willkommen im Autokino. Bitte bleiben Sie im Auto. WC-Besuche nur im Notfall.“ Ich gehe zu meinem Polo. In wenigen Minuten beginnt der Film. Ich lasse mich auf den Autosessel plumpsen und schiebe den Sitz nach hinten. Beinfreiheit. Freie Sicht. Auf Knopfdruck springt mein Radio an. Keyboard-Sound. Britischer Gesang. ADMT mit Dream auf Dasding. Ich suche die Kino-Frequenz.
Die ersten Klaviertöne des Warner Bros-Intros dröhnt durch mein Autoradio. Unwillkürlich summe mit. Ein paar Töne später steigt das Känguru aus dem Film ein. Sein schiefer Gesang, vermischt sich mit meinen ungeraden Tönen: „Dä, dä, dä, dä, dä, dä, däää, däääää“. Gott sei Dank hört uns niemand.
Gemeinsam einsam, durch Autoscheiben voneinander getrennt
Es ist ungewohnt, mit so vielen Leuten zusammen einen Film anzuschauen und dabei doch so allein zu sein. Durch die Fensterscheiben sehe ich die Pärchen lachen, miteinander sprechen und Süßigkeiten kauen. Aber ich höre nur mein Autoradio. Kein Popkorn-Geraschel. Keine leisen Gespräche. Kein Seufzen, Schnäuzen, Husten oder Handyklingeln. Wir alle sind durch unsere Autoscheiben voneinander getrennt – gemeinsam einsam.
Knapp 68 Wagen passen derzeit auf die Autokino-Parkfläche. Je nachdem, wie viele mit Smart und wie viele mit SUV kommen. Die Genehmigung für diese „kleine Lösung“ mit 68 Plätzen gilt erstmal bis zum 2. Mai. Die Veranstalter planen, die Fläche zu erweitern, eine zweite, noch größere Leinwand aufzustellen, damit bis zu 250 Wagen auf’s Parkdeck können. Dann käme das Kino in einen Bereich, in dem sich das Ganze finanziell rentiert.
Zuschauer applaudieren mit Lichthupe
„Den Leuten etwas anzubieten, damit sie in diesen Zeiten Spaß haben, ist ein tolles Gefühl“, sagte mir Tejkl kurz vor Einlass. Und Spaß macht es wirklich. Auch wenn es anfangs seltsam war, ich genieße die Ruhe und die ungewohnte Umgebung. Die Abwechslung, die in letzter Zeit immer mehr ausblieb.
Als der Abspann über die Leinwand flimmert, applaudieren die Zuschauer mit Lichthupe. Ich mache mit. Ich fühle mich mit diesen fremden Menschen auf eine ganz spezielle Art verbunden. Es ist ein Corona-Gefühl, das es zuvor nicht gab und auch später nicht wieder geben wird, auch wenn Autokinos weiter bestehen.
Bilder: Isabelle Zeiher
Ein Gedanke zu „Was tun, wenn einem in Corona-Zeiten die Decke auf den Kopf fällt?“