Rette sich wer kann – Gefangen im Ausland

Mit einem Van nach Griechenland fahren und im Flüchtlingslager auf Lesbos helfen. So hatten es Hannah und Carlos geplant. Doch Corona breitet sich weltweit aus und erreicht vor ihnen die Insel. Sie treten den Rückweg an – und sitzen in der Türkei fest.

Von Madeleine Londene

Hannah Simon und Carlos Kuhlmann sind im richtigen Land geboren. Deswegen dürfen sie zurück nach Hause. Seit 22 Stunden warten beide am Flughafen in Minsk auf ihren Anschluss, der sie nach Deutschland bringen soll. Sie sind müde, hungrig – und vor allem wütend.

Wütend, weil ein mikroskopisch winziger Virus sie zwingt nach Hause zu fliegen. Wütend, weil sie Menschen im Flüchtlingslager auf Lesbos zurücklassen müssen. Und die EU? Unternimmt in den Augen der beiden kaum Schritte, um diese Leute aus ihrer ausweglosen Situation rauszuholen.

Foto @Hannah Simon

Wegen der Corona Pandemie befinden sich mehrere Hunderttausend Deutsche im Ausland. Rückholaktionen der deutschen Regierung haben inzwischen mehr als 200.000 Menschen aus Krisengebieten nach Hause geflogen – aber noch lange nicht alle.

Viele bleiben sich selbst überlassen. So wie Hannah und Carlos. Der Unterschied ist: die beiden wissen, sie können jederzeit ein Ticket buchen und nach Hause fliegen, wenn es ernst wird. Viele Hunderttausend andere Menschen in den Flüchtlingslagern und Milliarden Menschen in den ärmeren Teilen unserer Welt, die auf unsere Hilfe zählen, können das nicht – und sind dem Virus schutzlos ausgeliefert.  

Aufbruch: 2100 Kilometer

Es ist der 8. März. Hannah und Carlos laden die letzten Klamottenkisten und Faltzelte in ihren burgunder-roten VW Bus. Beide sind mit dem Masterstudium fertig – Hannah darf sich nun offiziell Umweltingeneurin nennen. Bevor das Arbeitsleben losgeht möchten beide ihre Auszeit sinnvoll nutzen.

Für Hannah bedeutet eine Auszeit nicht am Strand liegen – sondern helfen. In der Vergangenheit hat sie bereits für „Technik ohne Grenzen“ in Ghana Klos für Schulkinder gebaut. Zuhause in München engagiert sie sich im Altenheim und der Nachbarschaftshilfe: Andere Menschen unter die Arme zu greifen ist das, was Hannah glücklich macht, was sie erfüllt.

Nach Georgien sollte es für die beiden gehen. In ihrem Van wollten sie schlafen, mitten im Nirgendwo parken und zu schneebedeckten Bergketten aufwachen. Doch davor wollen sie die gesammelten Spenden nach Lesbos fahren und drei Monate im Flüchtlingslager Moria aushelfen.

Für Hannah ist es nicht das erste Mal: sie war bereits im Winter letzten Jahres für zwei Monate dort. Seit sie zurück ist haben sie die Bilder des Meers aus Plastikzelten und die traurigen Gesichter der Campbewohner verfolgt und nicht mehr losgelassen: „Die Zustände dort sind schrecklich. Doch noch schrecklicher ist es zu wissen wie es ist, und nichts tun zu können.“

Winter, bevor Ausbruch der Pandemie

Die NGO Lighthouse Relief, für die Hannah arbeitet, operiert bereits seit 2015 an der Nordküste im Dorf Skala Sikamineas auf Lesbos, direkt an der Grenze zu der Türkei. Mit anderen Freiwilligen teilt sie sich damals ein kleines Apartment mit winziger Küche und Meerblick. Hannah gehört zu der Abteilung Emergency Responce: Oft hält sie spät nachts in den Bergen Wache. Mit einer Hand umklammert sie fest ihr Fernglas und Nachtsichtgerät, mit der anderen eine Tasse dampfenden, viel zu süßen Tee. Hannah erinnert sich an die Stille. Sie kneift die Augen zusammen und sucht den finsteren Horizont nach orangenen Punkten ab. Oft überrollt sie die Müdigkeit, doch sie weiß: Sollte sie einschlafen ertrinken vielleicht Frauen, Männer und Kinder in den Wellen.

In einer kalten Nacht wird Hannah von ihren Kollegen an die Küste gerufen: „Es kamen unglaublich viele Boote an, die Kinder waren klitschnass. Ich musste schlafende Familien und alte Menschen aufwecken, die auf den dünnen Yogamatten schliefen und darum bitten für die Neuankömmlinge zu rutschen. Dabei platzte das Zelt schon aus allen Nähten.“ Aus Platzmangel konnten alle nur noch sitzen, erzählt Hannah, kein Fuß passte mehr zwischen die durchgefrorenen Menschen.

Ab einem gewissen Punkt glich das Zelt einer riesigen Legebatterie. „Irgendwann konnte ich nicht mehr. Ich war komplett fertig mit den Nerven. Es waren einfach so viele Menschen in einer so unmenschlichen Situation“ sagt Hannah, ihre Stimme klingt belegt. Es gab kein Essen mehr, keine Decken, keine trockenen Klamotten. Und auch untereinander wurden die Menschen langsam wütend. Keiner würde in dieser Nacht schlafen.

Am Nachmittag darauf besucht eine Gruppe ehrenamtlicher Clowns das Lager Stage 2 – ein Transitcamp, bevor die Geflüchteten nach Moria gebracht werden. Ein paar der Helfer bauten eine kleine Bühne aus Zeltplanen und Holzpfeilern. Einige Erwachsene stehen in einem Kreis um die Bühne herum, „unter ihren Augen waren tiefe Ringe“ erinnert sich Hannah, in der Mitte sitzt eine Gruppe Kinder. Und nur für einen kurzen Augenblick schien die Welt in Ordnung: „Die Clowns haben es wirklich geschafft nach dieser schrecklichen Nacht alle zum Lachen zu bringen.“ sagt Hannah. Fast alle Freiwilligen, die am Vorabend im Einsatz waren, fingen aus Erleichterung leise an zu weinen.

Eine Insel in Angst

Hannah und Carlos wissen bereits als sie aus München losfahren, dass das Virus Europa erreicht hat. Das Ausmaß der Pandemie war noch nicht greifbar: bisher verzeichnet Deutschland 902 Corona-Fälle. Was für manche naiv erscheint war für die beiden keine Frage: Wer jetzt nicht hilft, wann dann? Doch nach und nach machen alle Ländergrenzen dicht. In Norditalien spitzt sich die Lage zu – mit der letzten Fähre schaffen sie es von Venedig nach Athen.

Dann die Nachricht: Das Virus hat Lesbos erreicht und breitet sich auf der Insel wie Lauffeuer aus. Die genaue Zahl der Fälle in Moria ist noch unsicher – doch klar ist: das Lager ist eine tickende Zeitbombe. Alle Helfer:innen müssen sofort evakuiert werden. Nur einige wenige Krankenpfleger:innen dürfen bleiben, die in Notfällen eingreifen können. Weder Desinfektionsmittel noch Seife oder Gesichtsmasken sind vorhanden. Schutz vor der Pandemie gibt es auf der Insel nicht. Die Menschen dort werden von der Welt alleine gelassen.

„Warum schickt die EU nicht bezahlt Ärzte mit medizinischer Ausbildung an diese Küste?“ fragt Hannah wütend. Anspruch auf Schutz während einer Epidemie scheinen nur Menschen mit der richtigen Staatsbürgerschaft zu haben.

Hannah und Carlos hängen in Griechenland fest. In die Türkei fahren ist eigentlich keine Option: in den Medien hört man von Tränengas, das von beiden Seiten über den Zaun fliegt und Schlagstöcken, die an der türkischen Grenze Kastanies zum Einsatz kommen. Ein paar Tage später erfahren sie, dass Erdogan bald die Grenzen schließt. Ihnen bleibt keine andere Wahl: Wenn Sie noch zurück nach Deutschland kommen möchten müssen sie sofort die Grenze überqueren.

Mitten in der Nacht erreichen sie mit ihrem Van die Grenzkontrolle. Hoher Stacheldrahtzaun kennzeichnet den Übergang. Keiner der Zollbeamten spricht Englisch, es herrscht Durcheinander. Die Stimmung ist angespannt, einige der Beamten tragen Masken. Pass und Temperatur der beiden werden penibel geprüft. Zwei Stunden später rollt ihr Bus über türkischen Boden – nur knapp eine Stunde vor der endgültigen Grenzschließung.

Auf dem Radar

Airbnb, Hostels und Hotels bieten Touristen mittlerweile keine Zimmer mehr an. Die beiden haben Glück: Carlos Opa, Recep, wohnt in Ayvalik in einem Haus mit einer kleinen Terrasse. Bereits kurz nachdem Carlos und Hannah ihre Koffer ausgeladen haben klopft das Gesundheitsamt an der Türe.

Zwei Gesundheitsoffiziere in weißen Anzügen, Mundschutz und Plastikbrille – die an eine Tauchermaske erinnert – messen Temperatur und verordnen zwei Wochen strenge Quarantäne. Mit täglichen Kontrollanrufen versichert sich die Regierung, ob die beiden das Haus auch nicht verlassen. „Sie sehen uns Deutschen als Infizierte und Gefahr, deshalb ruft das Gesundheitsamt ständig an“ sagt Carlos „wir haben ja auch die Ländergrenze überschritten, also sind wir auf deren Intensiv-radar.“

In den folgenden Tagen telefonieren Carlos und Hannah mit dem Auswärtigen Amt, der deutsch-türkischen Botschaft und mit den Behörden sämtlich möglicher Transitländer. Stundenlang hängen sie in der Warteschleife. Jeder sagt was anderes. Keiner der Zuständigen scheint einen konkreten Fahrplan zu haben. Nur in einem waren sich alle einig: „Kommt so schnell wie möglich zurück!“

„Mental waren wir ziemlich am Boden. Die Vorstellung, was gerade auf Lesbos und an der Grenze los ist, war ziemlich ernüchternd“ sagt Hannah: „Und langsam haben wir dann auch realisiert, wie ernst die ganze Lage mit Corona ist.“

Zu diesem Zeitpunkt sind in der Türkei die Restaurants und Geschäfte bereits geschlossen, eine allgemeine Ausgangssperre wurde noch nicht verhängt. Risikogruppen müssen zu Hause bleiben – und damit auch der 90-jährige Recep. In der Türkei gibt es keine Bürgerhilfe – der Staat bittet sogar um Spenden. Ohne seinen Gärtner, der alle zwei Tage für ihn einkaufen geht, könnte Recep sich im Moment gar nicht selbst versorgen.

Recep hat Angst, dass die Türkei nicht genügend vorbereitet ist und sich bald Zustände wie in Italien abspielen könnten. Es gäbe keine transparenten Zahlen zu Infektionen und Todeszahlen, außerdem spiele die Regierung die Pandemie runter. Erdogan vermittelt den Anschein, die Türkei hätte alles unter Kontrolle. Bis jetzt.

Langeweile, Frust und Wut

14 Tage vergehen. Aus Langeweile schneidet Hannah Carlos die Haare mit einer Küchenschere. Frust kommt auf und Diskussionen losgetreten: Wut über den geplatzten Urlaub und das Gefühl von Hilfslosigkeit. Die Tage verschwimmen ineinander. Hin und wieder gehen die beiden runter ans Wasser an den Basketballplatz mit kaputtem Korb, um die Zeit zu vertreiben. „Nicht einmal spazieren gehen konnten wir, weil die Polizei Fußgänger streng kontrolliert. Als Deutsche wird man natürlich gleich angesprochen und da wir nicht gut türkisch sprechen konnten wir uns auch nicht erklären. Die Polizei ist dort ziemlich autoritär.“

Hannah versucht mit ihrer Familie zu telefonieren, doch das Internet ist zu schwach: alles was sie hört sind abgehakte Wortfetzen. Hannahs Vater schreibt ihr, dass er immer mehr Angst hat, dass die Corona Situation in der Türkei eskaliert. Dort gäbe es keine richtige Gesundheitsversorgung – besonders nicht für zwei deutsche Touristen.

Eine weitere Woche vergeht. Das Auswärtige Amt rät ihnen Flüge über Drittländer zu suchen – und zwar bald. Bezahlen müssen sie aus eigener Tasche, denn die Türkei wird nicht offiziell als Risikogebiet eingestuft. „Wären die Infektionszahlen transparent, würde das mit Sicherheit anders aussehen“ weiß Hannah, die sich allerdings glücklich schätzt, überhaupt nach Hause zu kommen. In der kommenden Woche fliegen nur zwei Maschinen nach Deutschland, also buchen sie selbstständig zwei Plätze mit der weißrussischen Airline Belavia für knapp 500 Euro nach Istanbul.

Heimkommen – und weiter gegen das Virus kämpfen

„Auf freiem Fuß waren wir bis zur letzten Minute nicht“ sagt Carlos. Das Gesundheitsamt habe jeden ihre Schritte bis zum Flughafen streng überwacht. Weil weder Busse noch Taxis fahren fährt Receps Gärtner sie gegen 10 Uhr nachts zum Flughafen in Ayvalik. In jedem noch so kleinen Dorf, durch das sie fahren, kontrolliert die türkische Polizei Papiere und leuchtet die Rückfahrband nach Mitfahrern aus. Ihren Van müssen sie schweren Herzens bei Recep zurücklassen.

Um 2.30 Uhr morgens landet die menschenleere Maschine in Istanbul. Kein einziger Supermarkt, nicht mal ein Café hat geöffnet. Die Ankunfthalle ist wie ausgestorben. „Wir hatten super schlechte Laune, aber eine türkisch-deutsche Familien aus Düsseldorf ist mitgeflogen, deren Flug bereits vier Mal gestrichen wurde. Jetzt können sie endlich nach Hause. Darüber war die Familie natürlich total glücklich. Das hat angesteckt.“ 

10 Stunden später steigen beide in den Flieger nach Minsk. Dort angekommen schlafen sie zusammengerollt in der Wartehalle auf harten Stühlen, die kalte Klimaanlage bläst ihnen ins Gesicht. Hannah kann nicht schlafen, also kritzelt sie kleine Corona-Männchen in ihr Quarantäne Tagebuch.

Bevor Hannah und Carlos in das Flugzeug nach München steigen bekommen sie zwei Zettel in die Hand gedrückt: einer, der ihnen in Deutschland 14 Tage Quarantäne verordnet und ein anderer, wo beide eintragen müssen mit wem sie geflogen sind – in dem Fall, dass einer der Flugzeugpassagiere später positiv getestet wird. Beim Verlassen der Maschine finden sie keine Box, keinen Beamten, der die Zettel entgegennimmt. Sie landen im Müll.

Zurück in München sitzt Hannah mit ihrer Familie im Esszimmer und fädelt vorsichtig einen Faden in die Stechnadel ihrer Nähmaschine. Bunte Tulpen in einer Glasvase und ein Hase aus Metall stehen auf dem Tisch. Osterzeit. Sie rückt ihre runde Brille zurecht und schiebt ein Stück Stoff unter den Nähfuß: „Mundschutzmasken für meine Freunde und das Altenheim um die Ecke“ sagt sie und lächelt. Wenn sie schon nicht in Lesbos aushelfen darf – dann zumindest den Menschen nebenan.

Fotos: Hannah Simon und Carlos Kuhlmann; haru__q/CC BY-SA 2.0

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