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Wie die Menschen hinterm Deich die Corona-Krise erleben

Blühende Apfelbäume in den Vorgärten, blökende Schafe auf dem Deich und entspannte Spaziergänger am Elbstrand – die Welt scheint noch in Ordnung in Bielenberg, der Hauptstraße des gleichnamigen Ortsteils von Kollmar in Schleswig-Holstein. Jeder ruft jedem freundlich „Moin“ über den Gartenzaun zu. Doch wie geht es den Menschen wirklich? Mit welchen Gefühlen erleben sie die Corona-Krise? Ein Blick hinter die Gartenzäune von Bielenberg.

Von Janina Martens

Das Heulen der Sirenen unterbricht das Abendbrot. Es ist Montag, der 27. April, 18.40 Uhr. Fünf Bewohner von Bielenberg und eine Reporterin begegnen sich auf dem Deich. Neugierig, Rücken zur Elbe, Hand an der Stirn. Wo brennt es? Da vorne, da sind Rauchschwaden. „Das ist weit weg, vielleicht in Raa-Besenbek“, mutmaßt einer der Nachbarn. Achselzucken. Wochenlang kein Regen, trockene Reetdächer, Stroh in den Ställen – dass da mal was brennt, ist nichts Neues für die Menschen in der Kollmarer Marsch. Ja ja, so ist das. Alles wie immer.

Wo Fuchs und Hase sich ablichten lassen

Kollmar-Bielenberg – ein idyllisches Marschendorf. Foto: Martens

Acht Stunden vor dem Feueralarm. Der Morgen ist sonnig. Die Rapsblüten duften, Löwenzahn blüht am Fuß des Schildes „Kollmar – Ortsteil Bielenberg“. Ein Auto bremst quietschend ab, vielleicht nicht ganz auf 50 km/h. An diesem Schild beginnt der Ortsteil Kollmar-Bielenberg und zugleich die Straße Bielenberg. In der 2,2 Kilometer langen Straße stehen Einfamilienhäuser aus rotem Backstein, alte Reetdachhäuser mit Sprossenfenstern und restaurierte Höfe mit Pferdekoppel.

Bielenberg ist ein Teil von Kollmar, einem Marschendorf mit rund 1700 Einwohnern zwischen Elmshorn und Glückstadt. Wo Schafe den Rasen mähen und man zum Mittag am liebsten Matjesbrötchen isst. Ein Ausflugs- und Sehnsuchtsort für Städter. „Moin!“, grüßt ein Mann mit Hund und lächelt freundlich. Vom Deich, der parallel zur Straße hinter den Häusern verläuft, dringt das Blöken der Schafe herüber.

Die Corona-Krise scheint weit weg. Sehr weit weg. Während sich Leute in den Städten in ihren kleinen Wohnungen auf die Füße treten und einander im Supermarkt maskiert ausweichen, läuft hinterm Deich scheinbar alles weiter wie bisher. Supermärkte, Schulen oder Friseursalons, die geschlossen haben könnten, gibt es in Bielenberg ohnehin nicht. Alles wie immer. Und wenn man nachfragt? Wie fühlen die Bielenberger sich in Zeiten von Corona?

Hausnummer 41. Im Schatten der Bäume beugt Yvonne Lubenow sich vor, um ihre Beinmuskulatur zu dehnen. Sie ist gerade vom Joggen zurück, nun will sie noch Yoga im Garten machen. Ob sie mit der Reporterin ein paar Sätze über Corona reden könne? „Zeit haben wir jetzt ja reichlich“, sagt sie und lacht. Ihr 5-jähriger Sohn Jona stochert mit einer Schaufel im Moos herum. „Guck mal, ein Hase!“, Yvonne Lubenow zeigt zum Deich. Jona freut sich. Begeistert erzählt er von seiner Wildtierkamera: „Die hat sogar schon einen Fuchs aufgenommen. Und eine Ente und den Maler und Mama, Papa, mich…“

Wenn die Polizei kommt… Corona-Gefühl: Unsicherheit

Seit zwei Jahren bewohnen Yvonne Lubenow und ihr Mann das weiße Reetdachhaus in Bielenberg. Sie ist 37 Jahre alt und aktuell hauptberuflich Mutter. Eigentlich hat die kleine Familie ihren Lebensmittelpunkt gerade in der Schweiz, doch sie sind vor sechs Wochen nach Kollmar zurückgekehrt, weil der Schwiegervater von Yvonne Lubenow pflegebedürftig wurde.

„Wir waren unsicher, ob wir überhaupt herkommen können und dürfen“, sagt Yvonne Lubenow. Sie sitzt in ihrem Trainingsoutfit auf einem Holzgartenstuhl, bei jedem Windstoß stellen sich ihre Armhärchen auf. Seit Mitte März sind Touristen und Zweitwohnungsbesitzer in Schleswig-Holstein “personae non gratae” – unerwünschte Personen. Die Polizei kontrolliere auch in Bielenberg Autos mit fremdem Kennzeichen, erzählt Yvonne Lubenow. „Natürlich sind wir keine Touristen“, sagt sie, „aber die Unsicherheit war trotzdem da. Belastend.“ Zählt der pflegebedürftige Schwiegervater als triftiger Grund für den Aufenthalt in ihrem zweiten Zuhause? Was für eine Frage.

Im Sommer wollen Yvonne Lubenow, ihr Mann und ihr Sohn endgültig und ganz offiziell wieder nach Bielenberg zurückziehen. Das schöne Haus, der große Garten mit Trampolin, der Elbstrand – Yvonne Lubenow ist sich sicher: „Es gibt wohl keinen besseren Ort als diesen. Während Corona und auch sonst.“

Der geklaute Frühling… Corona-Gefühl: Vermissen

Hausnummer 55, kurz vor Mittag. Dieter Kontor freut sich über den Besuch und ist gern bereit, von sich zu erzählen. Er sitzt im Sonnenschein auf seiner Terrasse, die Ärmel des orangefarbenen Pullovers hochgekrempelt. Gemeinsam mit seiner Frau Hannelore lebt er seit 1976 in Bielenberg.

Eigentlich sei das mit Corona für ihn „entspannt“, meint er. Mehr Zeit für den Garten, neulich habe er endlich mal die Teichfolie geflickt. Und sie haben den alten Kühlschrank auf Vordermann gebracht, um mehr Platz zu haben für ihren Joghurt. „Wir gehen seit Corona nur noch einmal die Woche einkaufen“, sagt Dieter Kontor. Er ist 73 Jahre alt und Asthmatiker.

Etwas fehle ihm aber doch, sehr sogar: Die Besuche ihrer Tochter und die Reisen. Dieter und Hannelore Kontor haben ein Wohnmobil; das steht jetzt wie ein leeres Versprechen neben dem Haus.

Normalerweise sind sie ständig unterwegs. Eigentlich wären sie am Wochenende in ihrer Ferienwohnung auf Amrum, da sei sein Asthma auch viel besser. Und sie wären nach Prag gefahren. Später dann mit der Tochter auf Kreuzfahrt. „Fällt alles aus“, sagt Dieter Kontor. Er lächelt dabei und schiebt seine Ärmel noch weiter hoch. „Corona hat uns den Frühling geklaut, unsere Reisen.“

Seine Frau kommt auf die Terrasse. Mittagessen ist fertig – frische Früchte und Joghurt aus dem zweiten Kühlschrank.

Bielenberger Nachbarn auf dem Deich: Wo brennt es? Foto: Martens

Der Brand am Abend… Corona-Gefühl: Gelassenheit

Etwa sechs Stunden später. Auf dem Deich ist das Interesse an den Rauchschwaden fast verebbt. Ein Rettungswagen fährt durch Bielenberg, sechs Augenpaare folgen ihm, bis er hinter dem großen Kastanienbaum an Dieter Kontors Haus verschwindet. „Tja, wird man dann in der Zeitung lesen“, sagt einer, nickt den anderen zu und stiefelt den mit Schafskacke gesprenkelten Weg hinunter zur Straße. Die Metallpforte geht quietschend auf und fällt krachend zu.

Ohne Strandpartys kein Pfand… Corona-Gefühl: Wut

Der nächste Morgen. Lars hat keine Hausnummer, denn er hat kein Haus. Lars, der seinen echten Namen lieber nicht sagen und schon gar nicht irgendwo lesen möchte, sitzt auf einer Bank an der Zufahrt zum Bielenberger Hafen und liest in einem vergilbten Taschenbuch – „Klex in der Landschaft“ von Tom Sharpe. Neben der Bank steht ein Einkaufswagen mit seinem Zelt, seiner Matratze, seinem Rucksack, alten Büchern und Zeitungen.

Tierische Nachbarn in Bielenberg: die Schafe auf dem Deich. Foto: Martens

Für das Gespräch erhebt er sich extra von der Bank. Auf das Stichwort „Corona“ kommt er in Schwung, schwenkt von Trump über Merkel nach China und sagt: „Panikmache. Das ist alles Panikmache.” Irgendetwas Größeres solle damit überdeckt werden, was genau, weiß er noch nicht. Aber er weiß, dass er wütend ist und dass die Wirtschaft den Bach runtergeht und dass leere Bierdosen jetzt Mangelware sind am Elbstrand.

Über seine persönliche Situation mag Lars nicht reden. Nur so viel: Er sei 38 Jahre alt, seit Anfang des Jahres obdachlos und „tiefer kann’s mit mir nicht mehr gehen – höchstens unter die Erde.“ Ein bitteres Lachen. Er schaut hinüber zu einem Containerschiff, das auf der Elbe Richtung Nordsee fährt.

In Bielenberg gehe es ihm besser als in Hamburg, wo er die ersten Wochen seiner Obdachlosigkeit verbracht habe. Die Bielenberger grüßen ihn freundlich, neulich hat ihm jemand ein Zelt geschenkt. Und am Elbstrand hinterlassen Touristen, Ausflügler und Hundehalter normalerweise reichlich Pfandflaschen. Normalerweise. Jetzt zeugen nur noch Corona- und Astra-Kronkorken im Sand davon, dass gemütliche Grillabende hier mal erlaubt waren. Aber davon kann Lars nicht leben. Wenn es nach ihm geht, sollte „die ganze Sache mit Corona“ am besten jetzt zu Ende sein. Jetzt. Sofort.

Gesichtsmasken statt Kartoffeln… Corona-Gefühl: Tatendrang

Kurz vor dem Ortsschild, an dem Kollmar-Bielenberg zu Kollmar-Steindeich wird, steht an der Straße ein winziges Häuschen, in dem eine selbst genähte Gesichtsmaske zum Verkauf ausliegt. Und der Hinweis: „Bitte hinten melden, Nr. 63“.

In der Hausnummer 63 wohnen Peter und Ute Münster. Peter Münster steht an jenem Dienstagvormittag in seiner Garage auf einer Leiter und streicht die Balken über seinem Kopf mit weißer Farbe. Für einen Klönschnack macht er gerne Pause. „Ich mag alles am Haus machen. Nur malen mag ich nicht“, sagt er und wischt sich die Hände an seiner dunkelblauen Arbeitslatzhose ab. Peter Münster ist 77 Jahre alt und wohnt seit 45 Jahren mit seiner Frau Ute in Bielenberg.

Wo sonst Frühkartoffeln zum Verkauf liegen, verkauft jetzt Ute Münster selbst genähte Gesichtsmasken. Foto: Martens

Für ihn ändere sich fast nichts durch die Corona-Pandemie, sagt er. Das Zuhausebleiben falle ihm nicht schwer. Er wohne schließlich, wo andere Urlaub machen, und er habe immer was zu tun. Peter Münster kümmert sich jeden Tag um die Tomaten im Gewächshaus, letztens hat er Insektenhäuser gezimmert. Und er baut Kartoffeln an, die er auch verkauft. Vorne an der Straße, in dem Häuschen liegen sie normalerweise. Jetzt liegt dort die Gesichtsmaske.

„Da kommt meine Madame“, sagt Peter Münster, als seine Frau mit dem Wagen auf den Hof fährt. Sie kommt vom Einkaufen. Ute Münster ist 66 Jahre alt, Erzieherin in Rente.

Sie holt eine Plastikbox mit selbst genähten Gesichtsmasken in den Wintergarten. Die Masken sehen aus wie Entenschnäbel. „Weil Peter sich bei der ersten Maske beschwert hat, dass man damit nicht atmen kann“, erklärt sie. Ungefähr 100 Stück habe sie schon verkauft. An Freunde, Bekannte, Nachbarn, aber auch an Apotheken. Ute Münster findet es wichtig, sich gegen das Virus zu schützen. Sie wollte selbst etwas tun, es in die Hand nehmen. Ihr eigenes Immunsystem sei angeschlagen, seit sie vor zwanzig Jahren schwer krank war. „Aber Angst haben dürfen wir nicht“, sagt sie, „Wir müssen positiv bleiben.“

Peter Münster hofft, dass die Maskenpflicht aufgehoben wird, bis seine Frühkartoffeln reif sind. Damit die wieder ihren angestammten Platz an der Straße übernehmen können.

Dienstagnachmittag. Meldung auf dem Online-Portal der SHZ, des Schleswig-Holsteinischen Zeitungsverlags: „Rauch und Flammen entpuppen sich als geordneter Buschwerk-Brand.“ Gleich sieben Fahrzeuge der Glückstädter Feuerwehr seien ausgerückt, da wegen Corona im Moment nur jeweils vier Feuerwehrleute gemeinsam in einem Einsatzwagen sitzen dürfen.

Doch nicht alles wie immer.

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