Auch die Reportageschule in Reutlingen ist geschlossen. Zwölf junge Journalist*innen sitzen zu Hause, ihre Dozent*innen auch. Doch wir machen weiter, machen Corona zum Thema, bevor das Virus die Chance hat, uns zum Thema zu machen. Mit diesem Projekt, diesem Magazin.
Von Noemi Harnickell
Der Unterrichtsraum der Reportageschule in Reutlingen ist so klein für uns zwölf Schüler:innen, dass ich manchmal aus der falschen Tasse trinke. Der Ellenbogen meiner Sitznachbarin liegt auf meinem Notizbuch. Es ist eng, aber es ist auch Nähe.
Die Reportageschule ist ein Projekt der VHS Reutlingen. Die Ausbildung dauert ein Jahr und schult die Schüler:innen im Handwerk des Schreibens: »Journalismus ist Praxis, ist Übung, ist Erfahrung« steht auf der Schul-Webseite. Die Tage an der Schule dauern oft länger als acht Stunden. Jeden Tag dieselben zwölf Gesichter: Gemeinschaft ist kein romantisiertes Konzept, sondern eine Notwendigkeit.
Am Anfang war die Angst wie verkleidet
Corona rollte langsam heran und überrumpelte uns dennoch. Niemand war an jenem Wochenende in Reutlingen geblieben. Und nun war die Schule geschlossen. Jemand schrieb in den Gruppenchat auf WhatsApp: »Hä Leute, wir haben doch Zoom ;)« Ein Scherz. Wir hatten Zoom nur ein einziges Mal ausprobiert und es war ein Desaster gewesen. Ein paar Leute sorgten sich um ihren Unterhosenvorrat, sollten sie bis Ostern bei der Familie festsitzen. Die Angst fühlte sich verkleidet an. Sie war witzig oder wütend oder beides zugleich, vor allem aber war sie nicht echt.
Es ist der sechzehnte, siebzehnte, achtzehnte März. Eine Woche, in der neue Verordnungen im Vierstundentakt kommen. Bahnverbindungen fallen aus. Ausgangssperren treten in Kraft. Wir diskutieren. Janina ruft an. Sie und ihr Mann streiten, die Luft ist dick in Hildesheim. Karo packt. Sie ist wütend. Wütend auf die Situation, wütend auf die Ungewissheit, eine Wut, die verzweifelt nach einem Sündenbock sucht und sich in einer Schüssel voll trockener Kichererbsen manifestiert. »Weißt du, wie man Hummus macht?«, fragt sie und knallt die Schüssel auf die Ablage in der Schulküche.
»Ja.«
»Nein. Du musst die Kichererbsen einweichen. Über Nacht.«
»Ja.«
»Du verstehst nicht. Dann musst du sie eine Stunde kochen lassen.«
»Ja.«
»Ach, weißt du was, ich ruf dich morgen an und erklär dir das nochmal, sonst wird das nichts.«
Ich schenke Karo ein Glas Rotwein ein. Ich bin auch wütend, nur weniger geübt im Wüten.
Aus „vielleicht“ wird „wahrscheinlich“ Corona
Karo fährt nach Köln. Anna fährt nach Hamburg, streitet deswegen mit ihren Eltern, legt den Hörer mitten im Gespräch auf. Das hat sie noch nie gemacht. Torben erzählt von einem Corona-Alptraum, der ihn erschüttert hat. Katharina schickt eine Sprachnachricht, die mehr aus Husten als aus Sprache besteht. Fieber. Aus »vielleicht Corona« ist »wahrscheinlich Corona« geworden. Es passiert nicht alles auf einmal, aber so fühlt es sich an. So als wären es nicht die Ereignisse einer halben Woche, sondern die eines halben Tages.
Es ist Montag, der 23. März. Sitzung über ZOOM. Ich habe den Laptop in die Küche mitgenommen. Hinter mir kochen Karos Kichererbsen.
Wie geht es weiter?
Die große Frage.
Ich stehe auf, drehe den Herd runter, setze mich wieder, rücke den Bildschirm so, dass die Kamera meine Nase nicht größer macht, als sie ist. Solche Dinge fallen mir nun auf. Dauernd. Sehe ich immer so bescheuert aus, wenn ich dasitze und zuhöre? Vermutlich. Die Webcams tun niemandem einen Gefallen.
Wir bleiben zusammen …
Schließen wir die Schule?
Zwei sind dafür. Geldsorgen.
Es macht keinen Sinn, jetzt ein Urteil zu fällen, sagt Philipp, der Schulleiter. Wer weiß schon, was kommt? Ariel, ebenfalls Schulleiter, entscheidet: Wir machen einfach weiter.
Corona. Wir machen uns Corona zum Thema, bevor Corona die Chance hat, uns zum Thema zu machen. Zusammen sein können wir nicht, aber wir können weiter zusammenarbeiten. Wir bleiben zusammen. Es ist pathetisch, die Vorstellung, alle Floskeln von Gemeinsamkeit und Solidarität sind abgekaut und alt und trotzdem stützen wir uns darauf. Ein Onlinemagazin. Ariels Entscheid. Die Erleichterung ist selbst im ZOOM-Raum spürbar.
… und machen weiter
Und es funktioniert. Wir blicken in starre Bildschirme, sehen durch kleine Fenster in die Leben unserer Kommiliton:innen. Eine seltsame Art der Intimität, diese alten Kinderzimmer, die Katze, die durchs Bild läuft, das weiße CD-Regal im Wohnzimmer des Elternhauses.
Wir reden mit Lisa McMinn vom Vice-Magazin über Ich-Reportagen und erzählen dabei unsere intimsten Geschichten. Es ist Nähe, von der wir fürchteten, dass wir sie verlieren würden.
Die Schule ist zu, aber wir machen weiter.
2 Gedanken zu „Wie die Reportageschule den Corona-Maßnahmen trotzt“