Während die ganze Welt wegen des Corornavirus innehält, breitet sich in Brandenburg ein Feiertagsgefühl aus. Die Kinder kommen nach Hause, es wird beisammen gesessen, gut gekocht und getrunken. Es scheint, als habe Corona die Dörfer vergessen. Oder?
Von Katharina Reckers
Es fühlt sich an wie der Tag vor Weihnachten. Meine Mutter steht in der Küche vor dem Herd und rührt Bratensoße an. Im Hintergrund scheppert ein Robbie Williams Song aus dem Radio, den sie mitsummt. Sie ist gut drauf – morgen muss sie nicht arbeiten und ihre drei erwachsenen Kinder werden nach Hause kommen. Aus der ganzen Welt. Der Jüngste aus Bolivien, der Älteste aus München als fertiger Tiermediziner. Und ich bin schon gestern Abend zurück nach Brandenburg gekommen und sitze am heimischen Küchentisch.
Es ist Mitte März und ich bin nicht freiwillig hier. Eigentlich wäre ich von Berlin nach Budapest geflogen, doch wegen der Corona-Pandemie wurde der Flug gestrichen. Nun sitze ich hier, um den tückischen Virus, der die ganze Welt lahmlegt, zu überstehen. Um gesund zu bleiben, Ältere zu schützen und meinem stickigen WG-Zimmer zu entfliehen.
Die gezwungene Heimkehr
Die Lage, das weiß ich spätestens seit gestern Abend, ist ernst. In Berlin wurden meine Freunde und ich eine Nacht zuvor von der Polizei aus einer Bar geworfen. Auch in Bayern, so weiß ich von meinem Bruder, der mir Videos schickte, fahren Polizeiautos mit Megaphonen durch die Straßen und rufen den Ausnahmezustand aus. Der andere berichtet von strengen Ausgangssperren und geschlossenen Grenzen in Bolivien. Er musste sich bereits auf einer Rückhol-Liste eintragen, denn das Auswärtige Amt versucht verzweifelt, auch die letzten Reisenden von Südamerika nach Deutschland zu bekommen.
Was auf der Welt gerade passiert, ist Ausnahmezustand, die vielleicht größte Katastrophe unserer Zeit. Menschen sterben, Krankenhäuser sind überfüllt, die Wirtschaft bricht zusammen. Doch nicht hier, nicht in der Kleinstadt in Brandenburg. Hier duftet es nach Braten.
Da sind wir wieder
Einige Tage später sitzt Martin, mein jüngerer Bruder, neben mir am Küchentisch. Er hat den Rückholflug aus Bolivien bekommen. Keine Selbstverständlichkeit, er war einer der letzten, die die Maschine betreten durften. Einige mussten am Flughafen bleiben, es gab nicht genügend Plätze.
Nach dem Abitur wollte er mit Freunden ein Jahr um die Welt reisen. Jetzt, sechs Monate später, gucken wir unserem Vater dabei zu, wie er Maultaschen würzt. Martin ist braungebrannt, trägt ein zerschlissenes Hemd. Der Backpacker-Rucksack liegt achtlos auf dem Küchenboden, vor ihm liegen Schokolade und Nüsse — Kleinigkeiten, die er aus Südamerika mitgebracht hat.
Er erzählt von der illegalen Busfahrt von Santa Cruz zum Flughafen. Seit Tagen waren Menschen, die nach 12:00 Uhr die Wohnung verließen, verhaftet worden. Deswegen mussten sie in einem kleinen Bus, bangend, hinter geschlossenen Gardinen und mit geduckten Köpfen zum Flughafen gelangen. Er erzählt von Wartenden, die zehn Stunden auf dem Boden in der Abflughalle saßen, von Streit um Wasserflaschen, die am Flughafen verteilt wurden und von der Panik, die ausbrach, als sich herumsprach, dass der Flug nach Deutschland überbucht sei. Von der schwangeren Frau, die hustend und völlig erschöpft im Flugzeug neben ihm saß.
Mein Vater macht den Rotwein auf. Die Maultaschen werden serviert. Sie schmecken köstlich. Die Nachrichten bleiben heute aus.
Zurück in die Realität
Am nächsten Abend ein Telefonat mit Oma. Es sind solche Gespräche, die mich zurück in die Realität holen. Oma weint am Telefon, sie will nicht lange sprechen. Sie sitzt allein in Norddeutschland, der geplante Besuch zu ihrem 85. Geburtstag letzte Woche musste ausfallen. Sie sagt, sie weint vor Freude, weil Martin das Flugzeug bekommen hat, sie hätte sich große Sorgen gemacht. Doch es klingt nicht nach Freudentränen, es klingt nach Angst. An diesem Abend ist es an unserem Küchentisch still.
Der nächste Morgen ist sonnig, es riecht nach frischer Erde und geschnittenem Gras. Meine Eltern graben den Garten um. Die Katze räkelt sich auf Steinen in der Sonne. Ich liege auf einer Decke auf dem Rasen und lese. Am Abend kommt Felix aus München an. Er konnte seine Abschlussprüfung trotz Corona absolvieren, online. Jetzt ist er Tiermediziner und wird in den nächsten Tagen seinen ersten festen Job hier in Brandenburg antreten. Tierärzte dürfen auch in Krisenzeiten arbeiten. Ein Grund zu feiern.
Zusammenrücken und Lächeln
Wir sitzen zu fünft am Küchentisch und prosten uns mit kaltem Bier zu. Es wird geredet, diskutiert, gelacht, auf das Leben angestoßen. Dann holt mein Vater das Stativ, meine Mutter rückt ihre Bluse zurecht, Martin rollt entnervt mit den Augen — ein Familienfoto wird geschossen. Wir legen uns die Arme um die Schultern und lachen in die Kamera. Seit über einem Jahr standen wir nicht mehr so nebeneinander.
Als ich das Licht an diesem Abend ausschalte, plagt mich eine tiefe Bedrückung. Vor dem Schlafengehen habe ich die Nachrichten gesehen. Ärzte in Italien müssen darüber entscheiden, wer leben darf und wer sterben muss. Leichenhallen sind überfüllt. Tausende Menschen bangen um ihre Existenz. Bilder zwischen Leben und Tod und keine Lösung in Sicht.
Morgen Abend gibt es Kartoffelecken.
2 Gedanken zu „Weihnachtsgefühl in Brandenburg“