Menschen in einer Reihe

A Star is Rising

Die Königstochter in Rumpelstilzchen spann aus Stroh reines Gold. Nasir Noory stellt in seiner Schneiderei am Neustädter Markt in Hildesheim aus Stoffresten ordentliche Gesichtsmasken her – das Gold der Corona-Zeit.  

Von Janina Martens

Ein Brunnen
Wasser- und publikumslos: der Katzenbrunnen in Hildesheim.
Foto: Janina Martens

Die Konditorei an der Ecke, die Bänke am Katzenbrunnen, das Café Heidelberg und samstags die bunten Marktstände – das sind die Orte, die Menschen zum Neustädter Markt locken. Es waren die Orte. Vor Corona.

Jetzt ist das Café Heidelberg geschlossen, die Konditorei auch. Auf der sonnenbeschienenen Bank am wasserlosen Brunnen gurrt eine einsame Taube. Die Figur des Nachtwächters und seine vier Katzen schauen hinunter auf das Schild „Kein Trinkwasser“. Der Marktplatz ist dieser Tage nur ein leerer Parkplatz.

Wer in dieser Zeit trotzdem hierher kommt, will zu ihm, dem neuen König des Neustädter Marktes: zu Nasir Noory, dem Schneider.

Die rosa Verheißung

Er hat seine Flagge gehisst; die rosafarbene Schutzmaske wirbelt im Wind. Sie hängt an der Spitze eines blauen Stabes, der zwischen den Fugen in der Hauswand steckt und kaum dicker und nicht länger ist als ein Räucherstäbchen. Der dünne Baumwollstoff flattert, überschlägt sich, das Gummiband ver- und entheddert sich.

Unter der rosafarbenen Verheißung bildet sich eine Schlange. Eine ältere Dame, eine junge Frau in kurzärmeligem Top, ein dicker Mann mit Brille. Kein Kunde darf Nasir Noorys kleines Reich betreten. Durch die Schaufenster ist eine Frau im schummrigen Licht an der Nähmaschine zu erahnen.

Man wartet geduldig draußen vor der Schneiderei. Man wartet still. Fast demütig. Wie auf eine Audienz beim Papst.

Blaue und rote Scheine

Die ältere Dame darf vortreten und an der Theke vorsprechen. Die Theke ist ein Gelber-Sack-Ständer, der in der offenen Tür steht. Die Mülltüte knistert im Wind.

Nasir Noory höchst-selbst – kurzes, schwarzes Haar, frisch rasiert, ein gebügeltes blaues Hemd – legt vier Gesichtsmasken für die ältere Dame auf den Deckel des Müllständers. „Vierzig Euro.“ Zwei blaue Scheine. Nasir Noory lächelt, seine dunklen Augen lächeln mit. Der nächste bitte.

Die junge Frau. Zwei Stoffmasken auf dem Mülldeckel. Zwei rote Scheine. Der nächste bitte.

Der Mann mit Brille. Eine hellgraue Maske auf dem Mülldeckel. Zwei hellblaue Scheine. Der nächste bitte.

Eine rosa Maske im Wind lockt die Kunden an. Foto: Janina Martens

Mit Masken das Feuer löschen

Seit fünf Tagen bietet Nasir Noory die selbst genähten Masken an, jeden Tag kommen mehr Kunden. „Wir verkaufen im Moment fast nur Masken“, sagt er, „natürlich.“  Wegen Corona kommt niemand mehr mit einem Hochzeitskleid, das umgenäht werden muss, und niemand mit einem Konfirmationsanzug, der zu lange Ärmel hat.

In den letzten sechs Wochen musste Nasir Noory seine Schneiderei auf Anordnung des Ministeriums schließen. Er fährt sich mit der Hand durch das kurze Haar. Billig sind seine Masken nicht. Trotzdem badet der neue König des Neustädter Marktes abends noch nicht in einer Wanne voller Gold. Stattdessen bange er um seine Existenz, sagt er. „Drei Familien sind wir. Wir leben von der Schneiderei. Geht uns nicht gut. Wegen dem Verdienstausfall in den letzten Wochen. Es brennt und wir müssen jetzt das Feuer löschen.“

Die Maskenpflicht ist vielleicht die Rettung für Nasir Noory. Die Menschen in Niedersachsen dürfen nicht mehr ohne Gesichtsmasken einkaufen und Bus fahren. Professionelle Masken sind kaum noch zu bekommen, selbstgenähte werden in Hildesheimer Apotheken für 15 Euro verkauft. Ein Stück Stoff mit zwei Gummibändern macht Nasir Noory zum Mann der Stunde.

Acht Euro das Stück hat er gestern noch für die Masken genommen. Heute sind es zehn Euro.

Genug, um das Feuer zu löschen?

Vielleicht, vielleicht nicht. „Material wird teuer. Gibt keine Gummibänder mehr“, sagt Nasir Noory. Dann ein Lächeln. Gnädig, aber ungeduldig.

Der Schneider hat genug geredet. Mit dem Blick winkt er schon den nächsten Kunden heran.

Der König hat nichts zu verschenken

Ein dicker Mann mit schwarzem Cap geht wippend über den leeren Neustädter Marktplatz, vorbei am wasserlosen Katzenbrunnen. Bei jedem Schritt klimpern die metallenen Anhänger der Reißverschlüsse an seiner Gürteltasche. Sein Blick bleibt an der Schlange vor Nasir Noorys Schneiderei hängen. Er legt den Kopf schief, wie ein Hund, kommt näher: „Gibt’s hier was umsonst?“ Nein, zehn Euro.

Recherche / Textproduktion: 22. – 27. April

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