LOVE MY JOB: über eine Plage biblischen Ausmaßes

Matthias Hiller ist Flughafenpfarrer. Er betreut Rückführungen, hilft bei verpassten Flügen oder bei Todesfällen. Gerade bestimmt Covid-19 seinen Arbeitsalltag am Stuttgarter Flughafen.

Von Amonte Schröder-Jürss

Das Corona Virus hat vielleicht ein Leben gerettet. Eine junge Frau, fast noch ein Mädchen, sitzt im letzten Flugzeug von Stuttgart nach Rumänien. Die junge Rumänin ist vor ihrer Schlepperbande geflohen. Flughafenpfarrer Matthias Hiller hat sie, gemeinsam mit der Bundespolizei, bei ihrer Rückführung begleitet. Es war die letzte Maschine vom Stuttgarter Flughafen nach Bukarest. Dank der Corona-Krise kann ihr jetzt zumindest niemand mehr folgen.

Es ist ein kalter Morgen. Hiller steht neben dem Rollfeld. Motorendröhnen ist zu hören und Kerosingeruch liegt in der Luft. Er zückt sein Smartphone, versucht das Leuchten des Morgens festzuhalten und postet das Bild auf Facebook. Darunter die Buchstaben: „LMJ“ (love my Job). 

Trösten aus anderthalb Metern Abstand

Seit das Corona Virus Deutschland erreicht hat, ist seine Arbeit wichtiger denn je. Der Stuttgarter Flughafen muss schnell reagieren, Menschen schützen. Urlauber, die aus bestimmten Feriengebieten zurückkehren, werden sofort von der Polizei in Empfang genommen. Doch viele Familienmitglieder kommen zurzeit überhaupt nicht an, die Angehörigen warten umsonst. Urlauber rufen Hiller aus dem Ausland an: „Grüß Gott, ich bin in Athen. Wenn ich jetzt in den Flieger steige, landet der auch in Stuttgart?“ 

Grüß Gott, ich bin in Athen.


Das Schwierige an der Corona-Krise sei, dem Bedürfnis nicht nachzugeben: Nicht in den Arm zu nehmen, nicht die Hand auf die Schulter zu legen. „Wie man Trost spendet unter Corona-Regeln, das müssen wir alle erst noch lernen.“ Hiller macht sich auf den Weg in den riesigen Bauch des Flughafenterminals. Er zuckt mit den Schultern: „Jemanden aus anderthalb Metern Abstand zu trösten, ist fast nicht möglich.“ 

Seine Gemeinde besteht aus 11 Millionen

Viele von Hillers 35 ehrenamtlichen Mitarbeitern sind über 60, gelten als Hochrisikogruppe und arbeiten trotzdem. Sie unterstützen ihn bei kleinen und großen Problemen am Flughafen. Hiller ist als evangelischer Seelsorger und Ansprechpartner für Fluggäste und die Beschäftigten am Flughafen zuständig. Er hält Gottesdienste, betreut Rückführungen und die Rückführungsbeamten der Bundespolizei, hilft bei verpassten Flügen oder Sprachproblemen. Seine Gemeinde besteht aus etwa 11 Millionen Menschen jedes Jahr. Mehr als 30 000 Menschen fliegen täglich von Stuttgarter in alle Welt, mehr als 11 000 Menschen sind dort angestellt. 

Er versucht, jeden Tag mindestens einmal über den Flughafen zu gehen, um den Menschen zu signalisieren: „Ich bin da, ich habe Zeit.“ 

Jeden Tag um 12 Uhr hält Hiller den Gottesdienst im interreligiösen Andachtsraum. Ein Schutzraum für alle Religionen, eingekeilt zwischen Toiletten und einem Snackautomaten mitten im Flughafen. „Der Andachtsraum wurde vom muslimischen Rat abgenommen“, sagt Hiller und tänzelt durch den Raum, um nicht auf die silbernen Linien zu treten, die nach Mekka zeigen und die Richtung für die Gebetsteppiche der Muslime markieren. 

Drei Flughafenmitarbeiter treten ein. Aus kleinen Lautsprechern scheppert ein Lied: „Danke für meine Arbeitsstelle, danke für jedes kleine Glück. Danke für alles Frohe, Helle und für die Musik . . .“ Hände werden gefaltet, man setzt sich mit Abstand zueinander.

Im Gästebuch haben sich Besucher aller möglichen Sprachen verewigt. Halbjährlich werden die Seiten überprüft und ins Deutsche übersetzt. Ganz selten müssen diffamierende Sätze entfernt werden. 

Neu im Handgepäck: die FFP1-Maske

Glücksfall: niemand versteht den Fahrkartenautomaten

An manchen Tagen hat Hiller, auch in Corona-Zeiten, wirklich nicht viel zu tun. Die Reisenden hetzen an ihm vorbei, niemand beachtet den kleinen Mann, der so viel Zeit für sie hätte. Dann stellt sich Hiller an den Fahrkartenautomaten der Stuttgarter Verkehrsbetriebe. Da findet er immer ein Opfer. Vor allem für Ausländer ist der Kauf einer Fahrkarte oft das erste Problem in diesem fremden Land. Das ist Hillers Moment. Er übersetzt, zeigt auf den Einwurfschlitz für Münzen und wechselt auch mal einen 5-Euro-Schein in Klimpergeld.

Zurück im Büro lehnt Hiller an seinem Schreibtisch, knapp 1,65 Meter groß, mit offenen Augen und einem offenen Weltbild. Ein fröhliches Gottesbild zu vermitteln, ist dem Flughafenpfarrer wichtig. Das Schild um den Hals, mit der Aufschrift „Chaplain“ („Kaplan“) hat der 58-Jährige abgelegt.

Für ihn ist es nicht unbedingt ein Aushängeschild. Behutsam streicht er mit den Fingern darüber: „Das könnte sogar abschrecken.“

49 Kilo Traurigkeit mit der gleichen Menge an Gepäck

Einmal stand plötzlich eine junge Sportlerin aus Costa Rica vor ihm im Büro. Sie hatte erst die Olympiaqualifikation und danach ihren Flug verpasst. Im jugendlichen Übermut hatte sie die Nacht durchgefeiert. Jetzt war der Flug weg, das Sponsorenticket der Nationalmannschaft war weg und sie stand da: zwei Koffer und keine Olympiaqualifikation. „49 Kilo Traurigkeit mit der gleichen Menge an Gepäck.“ Hiller wird ernst. „Die Eltern konnten sich kein neues Ticket leisten und hatten große Angst, dass ihre Tochter im Puff endet.“ Er organisierte Kirchengeld, Sponsoren wurden angerufen und zwei Tage später konnte sie wieder nach Hause fliegen.

Und dann gibt es noch Momente, bei denen Hiller nicht mehr weiß, wie er wirklich helfen kann. Wenn die Familie in den Urlaub fliegt und mit einem toten Kind im Zinksarg zurückkommt. Er muss dann auch die Vorwürfe der Großeltern hören: „Das war unser Lieblingsenkel. Wie konntet ihr mit so einem kleinen Kind fliegen?“ Doch was sagt man im Angesicht des Todes? Matthias Hiller hält sich in solchen Fällen an die Liturgie. Es gehe darum, dass man selbst an etwas glauben könne, wenn ein Kind gestorben oder ein Flugzeug abgestürzt ist. Er zuckt mit den Schultern: „Liturgien bieten Sicherheit. Sie machen frei, wenn einem die Stimme stirbt.“ 

Zeit für mehr Demut

Hiller hat Naturwissenschaften studiert, bevor er kirchlicher Seelsorger wurde. „Ich sehe keinen Gottesbeweis, aber eine Gotteserfahrung. Besonders beim Fliegen.“

In der Luft gelten für ihn die Gesetze des Himmels und der Schwerkraft. In einem Flugzeug seien alle gleich. Jeder gäbe in irgendeiner Form seine Rechte auf. Seine Augen blitzen: „Man telefoniert nicht, man raucht nicht, man setzt sich hin und wenn ein 19-jähriger Flugbegleiter einem erklärt, dass man gerade nicht auf Klo gehen darf, dann geht man auch nicht.“ Trotzdem wünscht sich Matthias Hiller wieder mehr Demut vor dem Fliegen. Gerade für die Zeit nach dem Corona Virus, wenn wieder viele in den Urlaub fliegen werden. Die Menschen haben die Leidenschaft für das Fliegen verloren. 700 km Luftstrecke in einer Stunde zurückzulegen seien für ihn immer noch ein tägliches Wunder.

Hiller blickt aus seinem Bürofenster in den Himmel: „Beim Fliegen geht es ums Ausgeliefertsein. Darum, berührt zu sein, wenn man in den Stuttgarter Nebel aufsteigt.

Beitragsbild: Privat / Foto: PM/unsplash /Foto: TF/unsplash

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