Einst war sie die Prachtstraße Tübingens, Adelssitz und Zentrum der akademischen Intelligenzija. Schiller und Goethe waren ihre Gäste. Heute gängelt Corona die Nachbarschaft und hält die wenige Laufkundschaft fern. Von Torben Becker (Text/Foto)
Die Bedeutung der Münzgasse für Tübingen, ja für die ganze Welt, kann nicht hoch genug eingeschätzt werden. Hier wurde 1477 die Universität gegründet; Johann Wolfgang Goethe ging in der Münzgasse mit seinem Verleger Cotta spazieren und der Philosoph Georg Friedrich Hegel trank im angrenzenden evangelischen Stift Champagner auf die Französische Revolution. In der Münzgasse mit ihren schiefen Fachwerkhäusern und ehrwürdigen Adelssitzen, war einmal der Weltgeist zuhause.
Heute ist die Gasse auf ihren rund 180 Metern Länge eine verkehrsberuhigte Wohnstraße. Im ersten Drittel stehen noch einige Universitätsgebäude, ansonsten gehören die Wohnungen in den verputzten Fachwerkhäusern zu den begehrten und teuren Tübinger Wohnlagen. Das bekannteste Haus ist die Nummer 13, ein linksalternatives Wohnprojekt. 1977 besetzten Studenten das Haus. Einer von Ihnen fand heraus, dass die Gestapo im Nationalsozialismus aus diesem Haus die Deportation der Juden und Jüdinnen im Landkreis organisierte. Seitd diesem Fund hängt im zweiten Stock an der mit Graffiti verzierten Hausfassade das Schild „Hier kotzte Goethe“.
Feuer wegen Corona
Jürg Häusermann, seit drei Jahren emeritierter Medien-Professor, sitzt an einem Gartentisch im Hof der Nummer 14 und lacht wenn er die Geschichte erzählt, wie wegen Corona kürzlich fast das Haus abgebrannt sei. Weil nach seiner Corona-Erkrankung sein Geruchs- und Geschmackssinn nicht mehr richtig funktionierten, habe er nicht gerochen, dass ein Geschirrtuch in der Küche Feuer gefangen habe. Seine Tochter bemerkte den beißenden Gestank und konnte das beginnende Feuer gerade noch rechtzeitig löschen.
„Alles nochmal gut gegangen“ sagt er. Jetzt, nachdem ein Test ihm die völlige Genesung von Corona bescheinigt, erzählt, er wie ihm seine Nachbarn durch die Krankheit geholfen haben. Ein befreundeter Nachbar aus dem Erdgeschoss kochte ihm Risotto, eine andere Nachbarin kaufte ein. Morgens legten Nachbarn knusprige Brötchen vor der Tür, zur Stärkung gab es frische Hühnerbrühe.
Im Gegensatz zu seiner Frau hat er die Krankheit gut überstanden. Während er erzählt, liegt sie in der Wohnung auf dem Sofa und kuriert sich weiter aus. Manchmal erwache sie tief in der Nacht, von Atemnot geplagt. Das beunruhige ihn, sagt Häusermann.
„Man merkt auf einmal, dass das Leben endlich ist“, sagt er und streichelt seinen beigen Hauskater, der sich an sein Bein schmiegt. Er denke jetzt mehr über den Tod nach.
Keine Laufkundschaft in der Münzgasse
Schräg gegenüber von den Häusermanns betreibt die Goldschmiedin Gotlinde Waidelich seit 40 Jahren das Schmuckstüble. Vor ihrem Laden blüht eine Schwedische Mehlbeere. Das einzige Grün auf der ganzen Gasse. Vor ihren beiden Schaufenster stellt Waidelich morgens deshalb noch zartrosa Geranien.
Im Laden liegen in den Fensterauslagen in Gold gefasste Ohrringe und Halskettenanhänger. Auf einem hüfthohen Schrank an der hinteren Wand hat Waidelich einen wild verzweigten Ast aufgestellt, der sich zur Decke reckt. Goldene und bunte Ketten hängen an ihm. Auf dem Boden hat sie einen Meterstab auf 1,60 Meter ausgeklappt. Sicherheitsabstand.
Gotlinde Waidelich kichert viel. Ihren grauen Pony hat sie mit einer Spange seitlich abgeklemmt. Eine schwere Silberbrosche ist auf ihrem blauen Pulli angesteckt. Das ist ihre Arbeitskluft. Dazu eine weiße Stoffmaske. Die hat sie von der Stadt zugeschickt bekommen. Richtig geärgert hat sie sich darüber.
„Warum bekommen denn alle ab 65 eine Maske? Ich finde das altersdiskriminierend“, sagt sie und nimmt auf einem niedrigen Bürostuhl am Ende des Meterstabs Platz.
Aus ihrer Werkstatt dudelt SWR1. Vor kurzem hat sie Soforthilfe beantragt, die Kundschaft bleibt aus. Wenn sie raus auf die Gasse schaut, sieht sie niemanden. Die Münzgasse ist kein Magnet für Laufkundschaft. Für gewöhnlich kommen im Frühling die ersten Stadttouristen in Gruppen die Gasse entlang. Die bleiben jetzt alle weg, und die Tübinger gehen weiter unten in der Stadt einkaufen, dort wo Osiander seine Bücher wieder auslegt und Kunden vor H&M Schlange stehen und warten, bis sie mit Mundschutz eintreten dürfen.
Sie hoffe zwar jetzt auf das Geld, aber Sorgen mache sie sich weniger um den Laden als um ihre Mutter. Sie ist 94 Jahre alt und wohnt in einem Pflegeheim. Seit Wochen konnte Waidelich sie nicht mehr besuchen. Die Altersdemenz verunsichert ihre Mutter und Waidelich dringt am Telefon nicht immer zu ihr durch. Wenn doch, dann singen sie gemeinsam Lieder, das hilft.
Münzen sind nicht mehr gefragt
Der Kleinhandel gehe vor die Hunde. Das meint Michael Brandt am anderen Ende der Münzgasse, wo er in der Hausnummer 15 zusammen mit seiner Frau Bettina einen kleinen Laden für alte Münzen betreibt. Der Laden ist gemütlich wie ein Wohnzimmer. Gelbes Licht bestrahlt die Decke, an den Wänden stehen Vitrinen und Bücherregale. In den Auslagen liegen schwere Münzen in blauem Samt.
Die Lage für einen Münzhandel könnte nicht besser sein. Schon im 12. Jahrhundert wurde in Hausnummer 6 der Tübinger Pfennig geprägt. So kam die Gasse zu ihrem Namen. Außerdem haben die Brandts ihren Laden im Erdgeschoss des alten Cotta-Hauses. Bücher von Schiller, Kleist, Goethe, Tieck und vielen mehr wurden hier von Johann Friedrich Cotta im 18. Und 19. Jahrhundert verlegt. Im ersten Stock hat Goethe sogar mal für sieben Tage gewohnt. Tübingen fand er scheußlich kleinkariert.
Die goldenen Zeiten des Münzhandels sind indes vorbei, klagt Brandt. Münzen würden heute online verkauft. Den eigenen Onlineshop hat Brandt letztes Jahr aufgegeben. Es war ihm mit zu viel Stress. Die Leute suchen zwar verlässliche Wertanlagen. Antike Münzen zählen aber nicht dazu. „Alle Währungen der Welt leiden unter Corona“, sagt Michael Brandt. Deshalb investieren die Menschen in Sachwerte, hauptsächlich Gold. Schon vor den Schließungen im März sei die Nachfrage enorm gestiegen. Das Resultat: Goldhändler und Banken geht das Material aus. Goldbarren und Krugerrand werden teurer.
Seaculum Coronicum
Die Soforthilfe, die sie schon Mitte März bekamen, habe gerade mal die Kosten für einen Monat gedeckt. Jetzt wollen die Brandts den Rest des Jahres abwarten und am Ende vielleicht ihren Laden schließen.
Rechts neben dem Verkaufstresen schaut der römische Kaiser Hadrian in Form einer Büste in den Verkaufsraum. Er ist der Lieblingskaiser von Bettina Brandt . „Nur einen Krieg hat er geführt. „Sowieso stehe Hadrian für das prächtige Zeitalter um 200 nach Christus. „Diese Zeit galt als glücklichste im römischen Imperium. Saeculum Aureum – Das goldene Zeitalter“, schwärmt sie. Heute herrscht Seaculum Coronicum“, sag er und freut sich über seinen Witz.
Im Nachbarhaus Nummer 17, dem letzten Haus der Gasse, betreibt Mirinda das Café Tangente. Sie sitzt hinter einem Tisch, den sie in die Eingangstür gestellt hat. Ein provisorischer Tresen über den sei Kaffee und Snacks verkauft.
Davor steht eine Frau im roten Trenchcoat. Sie ist unzufrieden über die aktuelle Situation und wünscht sich die Zeit vor Corona zurück. Wenn sie spricht macht sie ausladende Bewegungen mit ihren Armen. Sie wolle auf niemanden mehr hören, sagt sie. Weder auf das Robert-Koch-Institut, noch auf den Drosten. Ja, auf wen den dann? „Auf den da oben“, antwortete sie und zeigt mit dem Finger in den wolkenverhangenen Himmel. Und was sagt der? „Abwarten.“