Spielplätze sind zu Orten der Leere und der Sehnsucht geworden – und zwar nicht nur für Kinder. Ein Erfahrungsbericht über heimliche Beobachtungen auf stillgelegten Spielplätzen.
Ich fühle mich wie der Rebell, der ich nie war, als ich mich unter dem Absperrband auf den Spielplatz schleiche. Flatternde rot-weiße Bänder markieren die Gefahrenzone, die sonst Kinder zu Spiel und Spaß im Freien, unter Bäumen und zwischen Plastikschaufeln einlädt. Doch Corona hat unsere Normalität verzerrt.
Unser Alltag heute besteht aus vielen kleinen kriminellen Versuchungen und ständiger Risikoabwägung – soll ich meinem Spieldrang nachgehen? Mich ohne Mundschutz an den See wagen? Heimlich meiner Oma den Fernseher reparieren? Banale Fragen mit oftmals folgenschweren Konsequenzen. Spielplätze sind zu Orten der Stille geworden, der Abstinenz und Sehnsucht, überschattet und verdrängt durch ein winziges Virus, das unserer Welt die Nähe stiehlt.
Ich fahre mit der Hand über die raue Oberfläche der Tischtennisplatte. Zusammengerollte Tabak- und Schokoriegelverpackungen stecken zwischen den Löchern des Metallnetz. Ist das Kunst – oder kann das weg? Ich male mir aus, wie hier die Nachbarschaftsbesten große Turniere abhalten. „To-dok, To-dok“, wie der Strahl eines Laserpointers schnellt der weiße Ball von links nach rechts. Die Schläger der beiden Kontrahenten peitschen herab, immer und immer wieder auf den weißen Punkt, der schwerelose durch die Luft tänzelt. Und heute? Sind die Tage der glorreichen Siege und Niederlagen nur noch als eingeritzte Strichlisten am Rand der Platte sichtbar.
Gedankenspielerei. Ich lasse ab. Fünf Meter entfernt ein Holzpferd auf einer Metallfeder. Wie ein Gespenst ohne Reiter steht es still, eingefroren in der Zeit, unberührt und abgenutzt. Entschlossen klettere ich auf das rote Wackelgestellt. Doch das Besteigen gestaltet sich als Kraftakt und Turnübung: meine Knie bohren sich in meinen Bauch, die viel zu langen Arme unnatürlich angewinkelt. Und das hat mir mal stundenlang Spaß bereitet?
Am Rande des Spielplatztes steht eine Parkbank. KOKAIN ist in grüner Graffitischrift auf der Mauer dahinter geschmiert. Eine Windböe wirbelt ein paar Blätter auf, raschelnd fallen sie zu Boden. Zu meinen Füßen liegt ein bunter Haufen Wiesenblumen: ein Meer von Brennnesseln, Lavendel und leuchtend gelbem Löwenzahn. Mit einem Fuß kicke ich gegen den Kopf einer Pusteblume – hunderte kleine Samen lösen sich und segeln wie Miniatur-Fallschirmspringer in Zeitlupe Richtung Boden.
Verrückt, wie die Welt sich auch ohne uns weiter dreht. Der Frühling kommt und geht, unbeeinflusst von unserem Tun. Sie braucht uns nicht, aber wir brauchen sie. Nicht Corona ist das Virus, sondern der Mensch der die Welt, den Wirt, befällt.
Jenseits des Spielplatzes fährt ein BMW in die surrende Waschanlage. Zwei Nylonbürsten, die an überdimensionale Küchenschrubber erinnern, reiben entlang der Frontscheibe und befreien das Fahrzeug von seinem dicken gelben Pollenmantel. Zwei Männer sitzen auf grauen Plastikstühlen vor dem Eingang. Sie schweigen sich an. Einer der beiden streichelt über seinen gewölbten Bauch, der andere hebt die Arme und gähnt. Dunkle Schweißränder kommen unter seinen Achseln zum Vorschein. Grau ist aber auch eine fiese Farbe. Weiter rechts eine Schlange Fahrradfahrer, drei Stück an der Zahl, aufgereiht vor dem WC der Waschstraße. Stau vor der „Pipi-Lounge“.
Eine Gruppe Jugendlicher in NIKE und Adidas Trainingsanzügen schlendert am Spielplatz vorbei. Handy Musik scheppert auf die Parkbank. „He! Du darfst da nicht sitzen“ grölt der, der beide Hände in den Hosentaschen vergraben hat. Ich fühle mich ertappt. Einen coolen Konter habe ich nicht parat, also grinse ich – und nicke dumm. Lachend verschwindet die Gruppe hinter der Waschstraße.
Ob sie auch alle zusammenwohnen? Sich zu treffen, ist doch nur mit einer Person außerhalb des Haushalts erlaubt! Ähnlich sehen die sich jedenfalls nicht.
Ein persönlicher Angriff genügt und schon mutiere ich zur Infektionspolizistin, zum Zeigefinger-Mensch von der Corona-Stasi, der seinen Mitmenschen eines Besseren belehren möchte, obwohl er sich selbst nicht an die Regeln hält. Absurd, was Extremsituationen mit Menschen macht – dabei habe ich nur Langeweile, während andere wegen Corona mit Krankheit, Hunger und Existenznot kämpfen.
Es hat etwas Voyeuristisches, geradezu Sensationsgeiles, wie ich hier sitze und warte. Hungrig darauf, dass etwas passiert. Die Sonne prallt auf meinen Kopf. Erst jetzt merke ich, wie heiß es heute ist. Ich schwitze zwischen den Fingern und wische sie an meiner dicken, viel zu engen Jeans ab. Sekunden, Minuten, eine halbe Stunde vergeht. Nichts passiert. Ich fühle mich wie Clint Eastwood in der staubtrockenen Wüste Mexikos in „Für eine Handvoll Dollar“. Fehlt nur noch die Zigarre und der Hut, den ich heute mal besser eingepackt hätte.
Weitere 30 Minuten vergehen – gefühlt ein ganzer Vormittag. Auf meinem rechten Knie ist eine kreisrunde Narbe in die Haut imprägniert. Brandblasen vom Rutschen gehören bei einem ordentlichen Spielplatzbesuch dazu, wie Hundekacke im Sandkasten. Ich stehe auf, gehe hinüber zur Spielplatzrutsche, die von seinen Besuchern mit dem Namen „Onkel“ besprüht wurde, und berühre mit meiner Hand das schimmernde Metall. Ruckartig reiße ich sie zurück – die Rutsche ist so heiß wie ein Ceranfeld auf Stufe 10.
Rutschen ist mir zu gefährlich. Aber Schaukeln, das traue ich mir schon eher zu. Meine Tritte knirschen in den Kieselsteinen. Vorfreude steigt auf. Freude, wie ich sie nur als Kind gespürt habe. Ein bisschen traurig, dass während Corona Zeiten das Tageshighlight verbotenes Schaukeln auf dem Ghetto-Spielplatz ist. Ich lasse mich auf das schwarze Gummibrett plumpsen. Die Beine ploppen hoch und baumeln in der Luft. Das Vor und Zurückpendeln hat fast etwas Meditatives – sorglos, wie ein Baby in einer Wippe.
Und kurz erinnere ich mich daran, wie ich hier als Dreijährige auf allen Vieren in meiner Latzhose im Sandkasten gekniet habe – Sand zwischen den Milchzähnen, den speckigen Zeigefinger tief im rechten Nasenloch. Unbeschwert und virusfrei. Kind sein ist unverschämt schön. Man wird herumgetragen, verwöhnt, geküsst, bekocht, geschaukelt, bespaßt. Das Zentrum jeder Aufmerksamkeit. Kleinkinder müssten doch eigentlich kleine Narzissten sein?
In Gedanken versunken bemerke ich die Frau – sie muss um die siebzig sein – erst, als sie den Spielplatz betritt. Ihre Haare sind kurz und wellig und schimmern lila in der Mittagssonne. Humpelnd läuft sie auf die Parkbank zu. Ihr wankender Gang erinnert mich an das Metronom, mit dem mich früher meine Klavierlehrerin gequält hat. Um den Hals trägt sie eine wuchtige Perlenkette, jede der marmorierten Kugeln eine andere Farbe, in ihrer rechten Hand baumelt eine Nettotasche.
Ohne etwas zu sagen setzt sie sich auf die Bank gegenüber, eine knappe Autobahnbreite Abstand zwischen uns, und zieht eine zusammengerollte Stadtzeitung aus ihrem Beutel: „Augsburger Herbstplärrer steht auf der Kippe“ ziert in dicken Printbuchstaben die Seite. Ab und zu werfen wir uns nichts sagende Blicke zu. Viel haben wir nicht gemeinsam. Doch in diesem Moment scheint sie mein einziger Freund zu sein. Wir, die Gesetzesbrecher.
„Schade, dass der Plärrer dieses Jahr abgesagt wird“ rufe ich zu ihr und zeige auf die Zeitung in ihren faltigen Händen. Dabei hasse ich Volksfeste. Verwirrt blickt sie auf. Es dauert einige Sekunden, dann versteht sie: „Ach! Ja, des isch scho a weng schad, aber solang wir gsund bleiben soll der Söder ruhig machen.“ Es folgt Smalltalk auf schwäbisch. Naja – das, was die Augsburger als schwäbisch bezeichnen.
Eine junge Mutter mit Baby auf dem Arm läuft am Park vorbei. Sie hält an und setzt den Kleinen ins Gras neben dem Gehweg. Flink krabbelt das Kind zum Zaun und gräbt seine Finger in den Maschendraht. Sabbernd blickt es Richtung Sandkasten, auf seinem Kopf eine blaue Seemannsmütze. Was er sich wohl denkt? Spüren Babys und Kleinkinder, dass etwas anders ist als sonst? Die bedrückende Stimmung die über dem bunten Spielplatz liegt?
Es ist still. Nur ein paar Vögel hocken auf den Ästen und singen, Blätter rascheln im warmen Frühlingswind. Kein Kind hat hier Sand zwischen den Zähnen oder Brandblasen auf den Knien. Keine Großmutter umarmt ihr Enkelkind oder küsst es auf die Stirn. Spielplätze sind eben nicht nur für Kinder. Und vor allem nicht nur zum Spielen.