Die Gastronomie leidet stark unter der Krise. Kleine Cafés und große Gastronomiebetriebe bangen um ihre Existenz. Auch das „Hemmer“ in Köln-Ehrenfeld schloss am 16. März die Türen – und öffnet zwei Wochen später seine Fenster. Inhaberin Ute Neumann reicht seitdem Schnitzel to go, Frikadellen und Spätzle an Nachbarn, Stammgäste und Freunde. Über eine Kneipe, die nicht aufgibt.
Der Winter hing dem März noch in den Knochen, als auch das Hemmer schließen musste. Am 16. März um Punkt 00:00 Uhr ging die Musik aus. Ute Neumann wird wehmütig. 1998 hat sie als studentische Aushilfe hier angefangen, mittlerweile leitet sie das Hemmer. Sie räumt die Gläser weg, wischt den Tresen. Aber nicht wie sonst für den nächsten Tag. Sie trägt die Kartons in den Keller, die Kölsch-Fässer trennt sie von der Zapfanlage. Ute Neumann schaltet die Kühlung aus. Auf unbestimmte Zeit.
Bis zum 16. März hatte das Hemmer 30 Jahre lang täglich geöffnet. Die Kneipe, ein Veedel-Refugium zwischen Supermarkt und U-Bahn-Haltestelle, ist Zuhause, Anlaufstelle oder Rückzugsort. Wer sich an einen der Tische draußen setzt, bekommt immer etwas zu sehen. Ins Hemmer kommen Nachbarn für ihr Feierabendbier oder Familien zum Abendessen. Manch einer hat hier schon eine Beziehung beendet oder angefangen – und die Stammgäste führen eine Beziehung mit dem Lokal. Am Tresen sitzt immer jemand, der gerne redet. Oder auch mitfühlend schweigt.
Mehr als Bier und Korn: Die Veedelskneipe
Menschen brauchen soziale Räume. Restaurants und Kneipen sind Kulturgut. Sie sind da, immer, überall. Wenn der Koch genervt ist, schmecken die Gäste das. Wenn die Gäste schlecht drauf sind, merken die Servicekräfte das. In Köln gibt es schätzungsweise 700 Kneipen- und Schankbetriebe, darunter viele sogenannte Veedelskneipen. Sie sind die verbindende Einheit innerhalb der Veedel, den Vierteln. Stirbt eine Kneipe, sterben mit ihr auch die Geschichten der Menschen, die sie besuchen.
Ein Gefühl von Gemeinschaft schwingt mit, als Julia, die seit Jahren zum Stammpersonal gehört, und Ute Neumann Ende März den dunklen Laden betreten. Die Besitzerin wirkt entspannt. Ute und Julia sind sich einig: Am wichtigsten seien die Gäste. „Wir schauen nach den Menschen. Wir fragen, wie es ihnen geht, ob sie Probleme haben. Wenn Gäste länger nicht kommen, dann haken wir auch mal nach, fragen Nachbarn. Wir kümmern uns um unsere Gäste und sie sich um uns.“
Die Kommunikation zwischen ihnen und der Kneipe darf nicht wegbrechen. Und doch fehlt zunächst eine Infrastruktur. Das Hemmer ist darauf ausgelegt, dass die Gäste im Gastraum essen. Auch, wenn sie jetzt umdenken müssen: Ein Hauch von Normalität soll bleiben. Julia holt einen Zettel aus ihrer Tasche.
Eine leere Kneipe…
Die Hocker stehen umgedreht auf den Fensterbrettern, die Tische sind gewischt. Die Lichter sind aus, Musik läuft keine. Ab und zu durchbricht eine vorbeifahrende Bahn die Stille im Gastraum. „Wir haben uns was überlegt,“ sagt Julia. Sie und die anderen Aushilfen arbeiten momentan nicht. „Was hältst du von Gutscheinen? Ein befreundeter Graphik-Designer hat ein Logo entwickelt, in einer Woche sind 250 Stück fertig.“ Die beiden wägen ab, was in der aktuellen Situation geht: „Wir machen einen Fensterverkauf. Einfache Gerichte, Schnitzel im Brötchen. Wir legen ein Datum fest und kündigen das bei Facebook an.“ Obwohl mindestens 4 Meter zwischen den beiden liegen, fühlt es sich an, als würden sie sich gerade jetzt umarmen.
…,und Solidarität über Facebook
Noch am selben Abend laden sie ein Foto hoch. Ein leeres Kölsch-Glas, ein leeres Schnapsglas und eine leere Theke. Und die Ankündigung, dass es Gutscheine geben wird neben dem Aus-dem-Fenster-raus-Verkauf. Bei Ute gehen private Nachrichten ein, sie mache das gut, schreiben ihr Gäste. Alle freuen sich auf die Wiedereröffnung. Wenn auch nur für ein kurzes Hallo und Schnitzel to go. Am 1. April gibt es den ersten Schnitzelverkauf außer Haus.
Zusammengehörigkeit über die Distanz
„Ein Schnitzelbrötchen mit Krautsalat, bitte.“ Die erste Bestellung kommt wenige Minuten vor 12 Uhr. Die großen Fenster links und rechts des Eingangs stehen weit offen. Hochtische vor den Fenstern sorgen für Abstand zu den Gästen.
„Auf welchen Namen geht das?“ Julia notiert die Namen und läuft im großen Bogen um ihre Kollegin zur Küche. Dort reihen sich auf einer Magnettafel Zettel mit Namen und Bestellung, Jan, der Koch, schwenkt riesige Pfannen über den Gasherd. Er mag die Idee: „Wir können uns nicht 6 Monate einsperren und nirgendwo sein. Natürlich müssen wir aufpassen. Aber vor allem müssen wir zusammenhalten.“
Die gekochten Kartoffeln müssen abkühlen, bevor sie gebraten werden. Kurz entsteht ein Rückstau. „Es dauert jetzt noch 20 Minuten, wir haben gerade neue Kartoffeln gekocht“, ruft Jan aus der Küche. “Kein Problem!”, erwidert ein Gast von draußen. Statt Bier an der Theke gibt es Flaschenbier zum Weiterlaufen. Statt einer Umarmung nur ein Winken durch die riesigen Fenster. „Dann lauf ich noch mal ne Runde, das Wetter ist grade so schön.”
Der Abend zeigt: „Wir haben keinen Verlust gemacht, aber auch keinen krassen Gewinn.“ Ute holt drei Bier aus dem Keller. “Aber darum geht es mir auch nicht.” Julia schiebt ihre Maske von Mund und Nase und trinkt einen Schluck Bier. „Das haben wir uns verdient.“
„Macht ihr das jetzt jeden Tag?“
Der Probedurchlauf war ein Erfolg. Immer mehr Menschen laufen am Abend am Fenster vorbei und fragen: Macht ihr das jetzt jeden Tag? „Wir haben die Kapazitäten nicht, jeden Tag so eine Aktion zu machen. Der Aufwand ist groß.“ Ute möchte aber nicht zu lassen. Gemeinsam mit Koch Jan überlegt sie, was es beim nächsten Mal geben soll. Jan war zunächst skeptisch, ob dieses Konzept funktioniert. Die Gäste sitzen gerne länger zusammen, an Tischen, mit Besteck und Tellern. Das Ambiente gehört eben dazu. Nach dem ersten Tag mit Schnitzelbrötchen findet er, dass sein Rindergulasch wunderbar auf die Karte passe. Das sei eine seiner Spezialitäten.
Ostersamstag. Ein ganz normaler Tag in der Krise.
Für Julia und Annika, die ebenfalls zum Stammpersonal gehört und ein paar Stunden mithilft, hat Ute schwarze Schutzmasken mit Totenköpfen. Es riecht nach Bratkartoffeln. Mit Einweghandschuhen räumt Julia die Vorratsbehälter auf den Küchentresen. Annika nimmt Bestellungen entgegen. „Wie geht’s?“, fragt sie durch die geöffneten Fenster einen Gast auf dem Bürgersteig. Viele der Gäste kennt sie schon lange. Der Fensterverkauf ist auch eine Möglichkeit, nachzufragen, wie es in Familie und Beruf so aussieht. “Ich hab noch Glück, ich kann ja gut von zu Hause arbeiten,” sagt eine Frau und legt einen Fünfzig-Euro-Schein auf die Fensterbank. “Runde mal auf 15 auf, ne?”
Abstand muss sein. Gemütlichkeit auch.
Auch Jens und Frank, die das Hemmer seit Jahren kennen, sitzen in ihren Wohnungen. Sie machen Home Office. Für die Mittagspause haben sie sich verabredet. Jens hat zwei Sitzkissen und zwei Teller mit Besteck im Rucksack. An der Kreuzung Liebigstraße/Subbelrather Straße treffen sie sich, zwischen ihnen die geforderten 2 Meter Abstand. Die Schnitzel kommen nach wenigen Minuten durch das Fenster des Hemmer, gemeinsam laufen sie die Straße hoch und setzen sich in angemessenem Abstand vor einen Stromkasten. Die Sonne scheint ihnen ins Gesicht, neben sich ein kleiner Verstärker, aus dem leise Musik klingt. Jens und Frank sind schon ziemlich nah dran an der Normalität. Auch wenn diese auf dem Bürgersteig einer Straßenkreuzung liegt.
Ein Gedanke zu „Schnitzel to go: Wie eine kölsche Kneipe auf die Corona-Krise reagiert“