Fußball-Ultras gelten als aggressiv und gewalttätig. Während der Corona-Krise zeigen zwei junge Männer von der VfB-Ultra-Gruppe Schwabensturm ein ganz anderes Gesicht: Sie gehen für Rentnerinnen, Senioren und schwache Menschen einkaufen. Ehrenamtlich. Wie passt das zusammen?
Von Isabelle Zeiher
9. März, Mercedes Benz Arena, Stuttgart gegen Arminia Bielefeld. Das Stadion ist beinahe ausverkauft. Cannstatter Kurve, bebende Brustkörbe, Trommelschläge. Bum, Bum, Bum. Clemens Knödler steht mit einem Megafon vor Johannes Efinger und einer tobenden Menge. Er stimmt die Stadiongesänge an. Der ganze Block grölt mit.
Das war vor sechs Wochen.Wenige Tage nach Abpfiff übernahm Corona die Kontrolle über die Stadien. Alle Großveranstaltungen wurden wegen des Virus abgesagt – auch die Spiele der zwei deutschen Bundesligen.
Fußball ist die Leidenschaft der Ultra-Gruppe Schwabensturm und der VfB ihr Verein. Unzählige Stunden investierten sie, um Auswärtsfahrten zu organisieren, Stadion-Choreografien, heißt Tribünenbilder, zu planen, Fahnen zu bemalen oder Flyer zu gestalten. Manche verbrachten mit den anderen Ultras mehr Zeit als mit ihrem Partner. Was bleibt ihnen noch, wenn ein wichtiger Teil des Lebens einfach wegfällt?
Gemeinsam helfen in Corona-Zeiten
- Sechs bis sieben Scheiben Bauernbrot.
- Festkochende Kartoffeln.
- Kassler (leicht mit Fett durchzogen).
- Linsen.
- Rote Äpfel.
- Zitronenkonzentrat (in einer gelben Plastikzitrone)
- Blutwurst
- Dosenchampignons
- Klopapier
Drei Wochen nachdem die Deutsche Fußball Liga (DFL) die Aussetzung der Spiele verkündet hat: Ursula Bayer, eine Seniorin aus Zuffenhausen, wählt die Nummer der Nachbarschaftshilfe der Schwabensturm-Ultras für schwache, ältere Menschen. Bayer gibt ihre Einkaufswünsche am Telefon durch und Johannes Efinger notiert sie sich fein säuberlich in Schreibschrift. Dann steigt er in seinen roten Opel Corsa und fährt zu einem Discounter, der nur wenige hundert Meter von der Seniorin entfernt liegt. Auf dem Parkplatz trifft er sich mit Clemens Knödler.
In der Heckscheibe des Corsa kleben zwei Flyer. „Gemeinsam helfen 0711“ steht auf dem einen, der andere zeigt einem Korb mit Wurst, Saft und Baguette und verkündet: „Einkaufshilfe Coronavirus. Für ältere Mitmenschen und Betroffene.“ Clemens Knödler und Johannes Efinger haben die Einkaufshilfe mit anderen Schwabenstürmern auf die Beine gestellt. Mit dem gefalteten Einkaufszettel in der Hosentasche geht Efinger zum Supermarkt, zwei Metern hinter ihm folgt Knödler. Am Eingang steht ein Security-Mitarbeiter und desinfiziert den Griff ihres Einkaufswagens.
Corona-Ballett im Supermarkt
Johannes Efinger, 28 Jahre alt, ein Anführer der Schwabensturm Ultra-Gruppe, Sozialpädagoge, Jutebeutel vom Zeltlager St. Georg Stuttgart auf dem Rücken. Clemens Knödler, im Stadion Vorsänger und ebenfalls Capo, breite Schultern, schwarze Jacke mit weißem „Ultra“ Schriftzug auf der Brust. Er greift seinem Kollegen dieses Mal unter die Arme. Sonst kümmert er sich um das Organisatorische.
Viel zu viele Menschen, auf viel zu engem Raum. In den Gängen des Supermarktes führen die Leute nun jenes merkwürdige Corona-Ballett auf, das man in diesen Tagen so oft sieht: Sie schauen sich nicht an, weichen einander aus, versuchen, so viel Platz wie möglich zu den anderen zu halten, aber das ist schwer. Die empfohlenen zwei Meter Abstand zueinander hält so gut wie keiner ein. Dafür trägt jeder zweite Atemschutzmaske und Gummihandschuhe.
Johannes Efinger legt die Dosenchampignons neben das Bauernbrot in den Einkaufswagen und streicht einen Punkt nach dem anderen von seiner Liste. Clemens Knödler sucht derweil die Regale nach Linsen und Blutwurst ab.
Ultras bieten Einkaufshilfe in sechs Landkreisen an
Zuerst boten die Ultras die Einkaufshilfe nur im Rems-Murr-Kreis und im Landkreis Stuttgart an. Inzwischen übernehmen 280 Leute die Einkaufsdienste in insgesamt sechs Landkreisen – hinzu kamen der Landkreis Esslingen, der Landkreis Ludwigsburg, Gemeinden im Schozachtal und das Stadtgebiet Böblingen/Sindelfingen. Für jeden Kreis gibt es eine WhatsApp-Gruppe. Kommt ein Auftrag rein, wird er dort verkündet und derjenige, der gerade Zeit hat, meldet sich. Viele der Ehrenamtlichen sind Ultras aus der Cannstatter Kurve – aber längst nicht alle.
Ultras sind keine Engel
„Es hat mich überrascht, wie viele Helfer sich uns angeschlossen haben, die nichts mit Fußball zu tun hatten“, sagt Clemens Knödler, „grundsätzlich gehen die Menschen eher auf Abstand, wenn sie das Wort Ultra hören.“
Uns’re Mannschaft kommt aus Stuttgart, sie ist unser Stolz, unser ganzes Leben! Ob München, Hamburg oder Dortmund, egal wo wir sind, wir werden alles geben!
Stadiongesang der Schwabenstürmer
Grölende Horden, die von der Polizei zum Stadion begleitet werden, manche betrunken, manche vermummt und ganz in schwarz gekleidet. Aggressive Sprechchöre, geballte Fäuste, Pyrotechnik – auf viele wirkt das beängstigend. „Ganz klar, wir sind keine Engel und nicht die Caritas. Wir sind Ultras und wissen um unsere Ecken und Kanten“, sagt Clemens Knödler.
Mit Hurensohn-Plakaten protestieren Ultras gegen den Kommerz im Fußball
Der Umgangston im Stadion ist rau. Das konnten Zuschauer zuletzt deutschlandweit in Stadien erleben. Schmähgesänge, Plakate mit Worten wie „Hurensohn“ und Dietmar Hopp im Fadenkreuz. Deutschlandweit solidarisierten sich die Ultras mit den Dortmund-Fans, die die Kampagne starteten, gegen die DFL, den Deutschen Fußball Bund und den Kommerz im Fußball. Als Investor, der sich mit seinem Geld Hoffenheims Aufstieg vom Dorfverein in die Bundesliga „erkauft“ hat, ist Dietmar Hopp das prädestinierte Feindbild. „Das Stadion ist und wird ein Ort bleiben, an dem sich die Menschen artikulieren und Kritik äußern können, vielleicht auch auf eine Art und Weise, die nicht gesellschaftsfähig ist“, sagt Knödler.
Die Rebellion auf den Stadionrängen bedeute aber nicht, dass sich Ultras nicht sozial engagieren können. Wer etwas gegen Ultras habe, werde immer etwas Schlechtes an ihnen finden, sagt Knödler. Oft schirmen sich die Fußball-Gruppen daher vor der Öffentlichkeit und der Presse ab. Sie haben das Gefühl, missverstanden zu werden.
Fußball-Ultras zeigen ihre soziale Seite
Die „Gemeinsam helfen“-Aktion zeige eine Seite der Ultras, die immer da sei, oft aber übersehen werde, sagt Knödler. Neben der Einkaufshilfe sammeln die Ultras zurzeit Spenden: In den vergangenen Wochen überreichten sie Schecks an die Schwäbische Tafel Stuttgart, die Evangelische Gesellschaft Stuttgart und das Café 72, eine Tagesstätte, unter anderem für wohnungslose Menschen. Schon vor der Corona-Pandemie spendeten die Ultras jedes Jahr an eine Organisation aus der Region.
Bei den Einkaufwagen und an schwarzen Brettern in den Supermärkten im Kreis hängen unter anderem seit mehreren Wochen selbstgestalte Flyer. Senioren, schwache Menschen und deren Angehörige können sich dort die Nummer der Aktion “Gemeinsam helfen” abreißen oder notieren. Auch auf der Webseite der Schwabenstürmer sind die Kontaktdaten zu finden. Wer Hilfe braucht, ruft an, gibt seine Einkaufsliste durch und die Helfer besorgen die Lebensmittel, so schnell es geht, stellen die Tüte und den Kassenbon vor der Tür ab, klingeln und bekommen dann das vorgestreckte Geld zurück. Der Service selbst ist kostenfrei. Die Ehrenamtlichen übergaben so bereits an mehr als 80 Leute ihre Einkäufe.
Schwabenstürmer wollen sich für die Menschen in der Region engagieren
„Wir Ultras sind Lokalpatrioten – wir fühlen uns der Region verbunden und wollen Verantwortung übernehmen“, antwortet der 33-jährige Clemens Knödler auf die Frage, was die Fußballfans antreibt. Dabei sei es egal, ob VfB-Fans Hilfe brauchen oder die Anhänger des sportlichen Erzrivalen Karlsruher SC. „Ist ja ein Ausnahmezustand“, sagt Efinger und lacht.
Er legt die Lebensmittel aufs Warenband. Packt sie nach und nach in eine Papiertüte. 19,60 Euro. Efinger holt sein Handy aus der Jackentasche und ruft Ursula Bayer an. „Ich bin jetzt mit dem Einkauf fertig“, sagt er, „nicht wundern, wenn es gleich bimmelt.“ Mit der prall gefüllten Tüte läuft er los. Clemens Knödler hinterher. Die Seniorin wohnt nur wenige Meter vom Supermarkt entfernt. In einer asphaltierten Hauseinfahrt bleibt Efinger stehen. Sucht den Namen auf dem Klingelschild. Drückt.
Sind Fußball-Ultras tatsächlich radikal?
„Sie sind jetzt also einer von diesen Ultras? Die hatte ich ja immer als ganz radikal im Kopf“, sagt die ältere Dame, kurz nachdem sie die Tür geöffnet hat. Dieses Vorurteil begegnet den Ultras bei ihren Einkaufstouren immer wieder. Efinger lacht und sagt: „Das kommt darauf an, wie Sie radikal-sein definieren.“ Er schiebt die Lebensmitteltüte ins Treppenhaus. „Klopapier gab es leider keines mehr“, sagt er, „ich kann morgen nochmal schauen, wenn Sie möchten? Solange habe ich Ihnen drei Rollen von mir zuhause mitgebracht.“ Bayer fasst sich an die Brust, ganz gerührt und bedankt sich überschwänglich.
Auf dem Weg zu seinem Opel Corsa erzählt Efinger, dass er durch die Corona-Pandemie zur Ruhe komme. Plötzlich hat er Zeit, Dinge zu tun, die er schon lange nicht mehr getan hat. Beispielsweise sein Akkordeon aus dem Keller zu holen und ein paar Töne darauf zu spielen. Empfinden die Ultras, die normalerweise all ihre Kraft in den Fußball stecken, die spielfreie Zeit am Ende als gar nicht so schlimm? „Jeder, der schonmal Stadionverbot hatte, weiß, dass die Welt ohne Fußball nicht gleich untergeht“, sagt Clemens Knödler, „es gibt jetzt einfach wichtigere Dinge. Sogar für uns.“
Weniger Kommerz, mehr rote Würste
Hoffnung setzen Efinger und Knödler darauf, dass der Fußball durch die Corona-Krise wieder zu seinen Wurzeln zurückfindet: Weniger Kommerz, mehr rote Würste, Tradition und echter Sports- und Vereinsgeist. Cheerleader und Livebands hätten im Stadion nichts verloren, die Profigehälter seien völlig überzogen. Der Sport werde von Geld regiert, Spieler kommen und gehen, keiner der Fußballer suche noch den persönlichen Kontakt zu den Ultras. Die Freundschaft und die Nähe unter den Schwabenstürmern bedeuten Johannes Efinger und Clemens Knödler mehr als der VfB selbst.
Wenn die ganze Kurve tobt, schlägt mein Herz in weiß und rot. Ich lass‘ dich niemals allein, du bist ewig mein Verein. Wir werden niemals untergeh’n, solange uns’re Fahnen wehn!
Stadiongesänge der Ultra-Gruppe Schwabensturm
Am 9. März wehten die Fahnen der VfB-Fans das letzte Mal. Wann Johannes Efinger und Clemens Knödler das nächste Mal die weiß-roten Fahnen schwenken, weiß niemand. Frühestens am 9. Mai werden die Fußball-Profis wieder den Rasen betreten – und dann vor leeren Rängen, sogenannte Geisterspiele. Denn Veranstaltungen mit großem Publikum wird es bis mindestens zum 31. August nicht geben.
Fotos: VfB-Ultragruppe Schwabensturm