Zwei Meter. So nah darf Dorothea Murri den Bewohner:innen des Altersheims Fischermätteli in Bern kommen. Gemeinsam mit ihrer Schäferhündin Fili versucht sie dennoch, Nähe in die Isolation zu bringen. Trösten auf Distanz – geht das? Ein Protokoll.
Von Noemi Harnickell
Vorbemerkung: Dorothea Murri ist meine Mutter. Sie ist Pfarrerin, Seelsorgerin und Traumatherapeutin. Über einen Zeitraum von zwei Wochen erzählte sie mir am Telefon und in WhatsApp-Sprachnachrichten Geschichten aus ihrem Alltag. Oft war sie dabei draußen, in den Bergen, im Wald, am Ufer der Aare. Die Namen der Heimbewohner:innen wurden geändert.
Ich möchte einschlafen. Den Satz höre ich in letzter Zeit oft. Damit ist gemeint: einschlafen ohne Wiedererwachen. Die soziale Distanz im Altersheim soll die Leute vor Krankheit und Tod schützen. Nun sind viele einsam und wollen nicht mehr leben.
Ich bin im Altersheim Fischermätteli in Bern als Seelsorgerin angestellt. Jeden Monat halte ich dort Andachten und leite Gesprächskreise, etwa zweimal die Woche besuche Menschen auf ihren Zimmern. Meine Schweizer Schäferhündin Fili begleitet mich. Wir sind ein Team.
Seit Mitte März werden keine Angehörigen mehr ins Heim gelassen. Die Bewohner:innen müssen in ihren Zimmern bleiben, selbst gegenseitige Besuche sind verboten. Das Essen wird in den Zimmern serviert. Ich muss bei der Seelsorge einen Mundschutz tragen und zwei Meter Abstand halten. Ansteckungsgefahr.
Die Maske entfremdet mein Gesicht
Ich möchte den Menschen das Gefühl geben, nicht alleine zu sein. Gerade jetzt ist das sehr schwierig. Wie soll mich denn ein schwerhöriger Mensch auf so viel Distanz und mit Schutzmaske noch verstehen? Die Maske macht mich unverständlich und entfremdet mein Gesicht.
Hunde gelten nicht als Virus-Träger, deshalb freuen sich die Leute immer sehr, wenn ich Fili mitbringe. Sie wollen sie streicheln und umarmen, ihre ganzen aufgestauten Gefühle fließen in diese Berührungen. Für Fili kann das überfordernd sein.
Nur noch die Raucher:innen gehen nach draußen
Das Fischermätteli ist zehn Stockwerke hoch und 33 Fenster lang. Normalerweise sitzt ein Grüppchen von Raucher:innen vor dem Haupteingang. Wie ein Empfangskomitee. Seit das Heim geschlossen wurde, sitzt da nur noch der grimmige Herr Ramseier. Das darf er eigentlich nicht, aber ganz ehrlich: Als Pflegerin würde ich mich auch nicht trauen, ihm zu sagen, dass er hier nicht mehr sein darf. Also sitzt er da immer noch, raucht und schimpft mit allen, die an ihm vorbeikommen.
Wäre ich Bewohnerin im Heim, würde ich jetzt anfangen zu rauchen. Die Raucher:innen sind nämlich die einzigen, die nach draußen auf die Terrasse gehen. Nichtraucher:innen ist es zwar nicht explizit verboten, sich dort aufzuhalten, aber weil nur fünf Leute zusammen sein dürfen, ist für sie nie Platz. Weil sie zwei Meter Abstand halten müssen, brüllen sich da draußen alle dauernd an, aber immerhin können sie sich unterhalten.
Das »Du« kann zu viel Nähe sein
Auf dem Weg zur Terrasse liegt die Cafeteria. Mein Lieblingsort, denn hier gab es Gesellschaft und Kaffee. Es war immer etwas los: Mittagessen, Kartenspiele, Kaffeekränzchen. Aber nun dürfen hier nicht mehr als fünf Leute sitzen, jede:r alleine an einem Tisch.
In der ersten Aprilwoche saß ich zwischen einer Handvoll Heimbewohner:innen in der Cafeteria. Einige Tische von mir entfernt, saß ein Mann, von dem ich wusste, dass er Hans Jost heißt. Gesprochen hatte er mit mir noch nie. Er war sehr dick und wirkte sehr unglücklich. Ich hätte mich gerne zu ihm gesetzt, was ich natürlich nicht durfte. Aber man kann sich auch auf zwei Meter Abstand kennenlernen. Ich rief ihm zu: »Herr Jost, wir duzen uns hier alle! Darf ich Ihnen das Du anbieten?«
Das war zu viel Nähe und sie kam zu schnell und unvermittelt für Hans Jost. Er begann heftig zu schluchzen, sackte auf den Boden und kauerte dort mit bebenden Schultern zwischen den Tisch- und Stuhlbeinen. Eine Pflegerin wollte ihn sofort zurück in sein Zimmer bringen, damit sich niemand von der Szene gestört fühlte. Aber er war zu schwer und sie musste mich mit ihm alleine lassen, um Verstärkung und einen Rollstuhl zu holen.
Das Pflegepersonal ist herzlich im Umgang
Seit Wochen treffe ich immer wieder auf ähnlich berührende Szenen. Die Vereinsamung der Menschen ist in fast jedem Raum spürbar. Die Ausnahme sind Demenzkranke. Eine Frau, die ich betreue, glaubt, sie sei hier im Hotel. Die beschwert sich nur über das Essen, das nicht fünf Sternen entspricht, ist aber den ganzen Tag sehr fröhlich. Ansonsten begegne ich aber auch vielen Leuten, die beim Beten zu weinen anfangen oder deren Kindheitstraumata durch die neuen Restriktionen wieder aufgeweckt werden. So wollten sie nicht alt werden, so alleingelassen.
Die Situation ist auch für die Heimleitung und das Pflegepersonal schwierig. Die Verordnungen kommen ja nicht vom Heim, sondern vom Bundesamt für Gesundheit. Niemand möchte die Menschen wegsperren und sie vereinsamen lassen, aber natürlich darf der Corona-Virus unter gar keinen Umständen ins Heim gelangen.
Das ist eine schwierige Gratwanderung, aber die Angestellten, vom Putzpersonal über die Pflegekräfte bis hin zur Heimleitung, sind absolut herzlich in ihrem Umgang. Die Menschen werden sehr wahrgenommen. Die Pfleger:innen notieren sich, wer ein Gespräch mit mir wünscht, wer einsam oder unglücklich ist, und leiten es an mich weiter. Sie versuchen, die Menschen zum Lachen zu bringen, und servieren ihnen in der Cafeteria manchmal gratis Kaffee, obwohl diese offiziell geschlossen ist.
Wir tun alle unser Bestes, um das Leben der Heimbewohner:innen so schön wie möglich zu machen. Aber: Trost spenden auf zwei Meter Entfernung ist fast unmöglich. Wir brauchen physische Nähe zu anderen Menschen. Unsere Nervensysteme reagieren aufeinander, Berührungen helfen beim Entladen. Berührungen verstoßen im Augenblick gegen die Regeln.
Manche Leute wollen nur mit Fili sprechen
Als ich den alten Hans Jost so außer sich schluchzend auf dem Boden sah, dachte ich mir einfach: Social-Distancing hin oder her! Ich legte eine Hand – die ich davor natürlich desinfiziert hatte! – auf seine Schulter und fragte ihn: »Hans, möchtest du nicht lieber wieder aufstehen?« Er reagierte sofort. Seine Schluchzer verebbten ebenso plötzlich, wie sie gekommen waren, und er sagte: »Natürlich!« Er setzte sich zurück auf seinen Stuhl, dann entdeckte er Fili. Ich führte sie zu ihm hin und er kraulte ihren Hals. Da ist ihr Fell besonders weich.
Ich bin »die mit dem Hund«. Das können sich viele Heimbewohner:innen besser merken als mein Gesicht. Vor allem, weil das im Moment sowieso zur Hälfte von einer Maske verdeckt wird. Es gibt Menschen, die wollen auch nur mit Fili sprechen und gar nicht mit mir, der Seelsorgerin. Einmal musste Fili eine Stunde am Bett eines alten Mannes sitzen, der ihr seine Lebensgeschichte erzählte. Als wir gingen, sagte er zu ihr: »Aber nicht wahr, mein Schätzeli, du kommst bald wieder?« Mich würdigte er die ganze Zeit keines Blickes.
Jedes Mal besuche ich etwa fünf Menschen. Es braucht zwei, drei Besuche, bis sich die Leute wirklich öffnen können. Da ist mir Fili eine große Hilfe, denn über sie findet oft der erste Kontakt statt. Es braucht Vertrauen, um sich trösten zu lassen, und oft ist es viel einfacher, einem Tier zu vertrauen als einem Menschen.
Fünf Stunden im Heim fühlen sich an wie zwölf
Nach fünf Besuchen muss Fili kotzen. So sehr nehmen sie die Gespräche mit. Ich habe sie darum nur noch jeden zweiten Tag und höchstens bei drei Besuchen dabei. Zwischendurch gebe ich sie Freunden in die Ferien, damit sie sich eine Woche ganz erholen kann. Fili ist schließlich mehr als nur ein Werkzeug, sie ist ein Wesen mit einer Seele. Sie ist meine Partnerin.
Fünf Stunden im Heim fühlen sich an wie zwölf. Wenn ich nach Hause komme, habe ich einen Bärenhunger und schlafe danach sofort auf der Couch ein. Fili ist sogar so erschöpft, dass ihr die Kraft fehlt, um ins Auto zu springen. Sie legt achtstündige Wanderungen auf alpinen Pfaden leichtfüßig zurück, aber wenn wir Feierabend machen, schafft sie es gerade noch, ihren Vorderkörper ins Auto zu hieven. Den Hintern muss ich ihr heben!
Nähe durch moderne Technik
Das Fischermätteli fühlt sich hohl an. Leere Flure, leere Gemeinschaftsräume. Keine Gemeinschaft. Wir müssen uns dringend überlegen, was die Menschen in und nach der Krise brauchen. Moderne Technik zum Beispiel: Jetzt wäre der Zeitpunkt reif, ihnen etwa Skype und FaceTime zu erklären. Das würde sie zumindest ihren Familien und Freunden außerhalb des Heims wieder näher bringen.
Auch wenn das keine Umarmungen ersetzen kann, glaube ich, dass wir dadurch Nähe schaffen können. Seit unserer ersten Begegnung in der Cafeteria ruft mich Hans Jost jeden Tag zweimal an. Am Morgen und am Abend. Zweimal am Tag frage ich nun also: »Wie geht es dir, Hans?« Und zweimal am Tag gibt er mir die gleiche Antwort: »Wenn ich deine Stimme höre, geht es mir gut.«
Beitragsbild: Murri